Wenn Möhren nicht der Norm entsprechen, werden sie weniger gekauft. Foto: dpa

Selbst Bioware landet tonnenweise im Müll. Slow-Food-Gründer Carlo Petrini hat dies in Stuttgart heftig kritisiert. Zehn Jahre war er nicht mehr in Stuttgart. Auf dem „Markt des guten Geschmacks“ wehrt er sich nun gegen den Vorwurf, seine Bewegung sei elitär.

Stuttgart - Ist die Gurke krumm? Hat die Möhre zwei Beine? Sind die Kartoffeln fleckig? Sogar Biobauern, sagt Carlo Petrini, der 1986 aus Protest gegen eine McDonald’s-Fast-Food-Filiale in einem barocken Gebäude von Rom ein öffentliches Spaghetti-Essen auf der Spanischen Treppe veranstaltet hatte und damit Slow Food erfand, berichten ihm, dass sie ein Drittel ihrer Produkte wegwerfen müssten. Grund dafür seien Schönheitsfehler. Supermärkte und Kunden wollten nur makellose Produkte, die immer gleiche Einheitslinie einer angeblichen Perfektion.

Seit 30 Jahren gilt Petrinis Kampf der industriellen Herstellung von charakterlosem Brot, wässrigem Fleisch oder Gemüsesorten, die, um möglichst billig zu sein, normiert und transportgerecht gezüchtet werden. Der Appell des berühmten Italieners mit dem scharfen Blick lautet: Schluss mit Speisen, die Konservierungsstoffe und künstliche Aromen nötig haben. Stärkt die kleinen Bauernhöfe! Zahlt ihnen Preise, die ihrem Einsatz gerecht werden!

Carlo Petrini schwärmt für deutschen Riesling

Eigentlich ist Carlo Petrini mit bald 67 in einem Alter, in dem er sich in den Ruhestand zurückziehen und das Erreichte genießen könnte – etwa all’olio e parmigiano, Nudeln mit Olivenöl und Parmesan, sein Leibgericht, und dazu einen deutschen Riesling. Fleisch isst er immer weniger. Auch wenn aus Slow Food eine weltweite Bewegung geworden ist, die mit Tausenden von Unterstützern auf den politischen Bühnen agiert, sieht er seine Mission noch lange nicht erfüllt. Vor zehn Jahren gab der Sohn eines Eisenbahners in Stuttgart dem ersten Markt des guten Geschmacks – damals noch auf dem Killesberg – Starthilfe. Seitdem war der große Vorsitzende der globalen Genussbewegung nicht mehr in dieser Stadt. Wer denkt, der Rebell sei altersmilde geworden, womöglich sanft, der irrt.

Mitunter antwortet er nur mit sparsamen Worten, als sei er tatsächlich müde, sagt „Ja“ oder „Da stimme ich Ihnen zu“. Wenn er aber den alten Vorwurf hört, Slow Food sei eine Schickimicki-Bewegung, nur für Betuchte, dann explodiert er innerlich. Sein Gesicht wird rot, mit dem Zeigefinger stößt er in die Luft, als wolle er damit seine Kritiker aufspießen. Gerade in Stuttgart müsse man es besser wissen, findet Petrini und bestätigt mit seinen Gesten das Klischee des impulsiven Italieners. In Stuttgart würden mobile Küchen von Slow Food in soziale Brennpunkte fahren, um jungen Menschen zu zeigen, wie gut, einfach und fair man Pasta aus regional angebauten Maissorten oder ein deftiges Gericht aus Hülsenfrüchten machen kann. Mit elitär habe das nichts zu tun. Die Gesellschaft mache einen großen Fehler, wenn mit Dumping-Preisen Landwirte zum Aufgeben gedrängt werden, sagt er. Billige Produkte seien in Wahrheit teurer, weil sie die Gesundheit gefährdeten und die Umweltzerstörung vorantrieben – am Ende seien die Folgekosten weitaus höher.

Petrini lobt Bernie Sanders

Carlo Petrini, der seinen Auftritt in Stuttgart sogar dazu nutzt, US-Wahlkampf zu machen (er favorisiert den Demokraten und Sozialisten Bernie Sanders, der die industriell gefertigten Lebensmitteln als einziger bekämpfe), ermutigt bei seinem Rundgang durch die Halle neun der Slow-Food-Messe die Erzeuger von Bio-Essig, nicht mit ihrem Preis runterzugehen. Ob sie davon leben könnten, fragt er sie. „Na ja, nicht so toll“, lautet die Antwort. Von der Vielfalt der deutschen Essig-Produkte aus biologisch erzeugtem Obst ist Petrini so begeistert, dass er dafür künftig Werbung machen will – wie für das deutsche Brot, das er liebt.

Slow Food – das bedeutet Entschleunigung, Ruhe. Doch in der Halle neun ist wenig davon zu spüren: Vor den Ständen herrscht ein Gedränge, als wolle jeder auf die Schnelle ein Schnäppchen machen.

Der Italiener mit dem grauen Bart, den man nur selten lächeln sieht, wenn es um seine Themen geht, freut sich, dass der Altersschnitt der Stuttgarter Messe nicht mehr so hoch ist wie früher. Von jungen Deutschen stammt die Idee der „Schnippeldisco“, die dem Slow-Food-Ahnherrn sehr gut gefällt: Sie kochen öffentlich einen riesigen Topf Suppe aus Zutaten, die sonst weggeworfen würden. Auch die Möhre muss nicht mehr der Norm folgen und darf zweibeinig mit rein. Es lebe die Individualität!

Buon appetito!