Herren der Lüfte: Die Skiflieger gehen am Kulm auf Titeljagd Foto: Getty

300 Meter, vielleicht sogar 400 Meter? Über die Möglichkeiten im Skifliegen gibt es wilde Theorien. Zunächst aber geht es am Kulm um die WM-Titel – und um Weiten bis zu 250 Meter. Severin Freund gehört wieder zu den Favoriten.

Bad Mitterndorf - Hochleistungssportler sind Realisten – mit einem Hang zur Träumerei. Also schließt auch Severin Freund einen Flug auf 300 Meter zumindest gedanklich nicht aus. „Wenn du in der richtigen Form bist, kannst du sehr, sehr weit springen“, sagt der Skiflug-Weltmeister und ergänzt: „In meinen kühnsten Träumen fliege ich so weit, wie es die Schanze eben hergibt. Und wenn in ein paar Jahren neue Anlagen gebaut werden, ist sehr viel möglich.“ Bei der Skiflug-WM von diesem Donnerstag bis Sonntag auf dem Kulm soll es in Richtung der magischen 250-Meter-Marke gehen.

Den Schanzenrekord auf der gigantischen Schanze in Österreich hält Freund derzeit mit 237,5 Metern (2015). Freund hält mit 245 Metern auch den deutschen Rekord. Weltrekordler ist seit vergangenem Winter der Norweger Anders Fannemel, der auf dem Monsterbakken im norwegischen Vikersund auf 251,5 Meter segelte. Viel mehr ist derzeit nicht möglich. Das hängt vor allem mit dem Internationalen Skiverband Fis zusammen, der die Größe der weltweit fünf sprungbereiten Flugschanzen (Kulm, Oberstdorf, Planica, Harrachov und Vikersund) reglementiert. Die Höhendifferenz zwischen dem Schanzentisch und dem tiefsten Punkt des Aufsprunghangs darf höchstens 130 Meter betragen.

„Die Fis tut sehr gut daran, dieses Thema behutsam zu behandeln. Es ist doch schon eine unglaubliche Story, dass Menschen 250 Meter weit fliegen. 300 Meter würde ich auch nicht ausschließen, aber dann sehen die Zuschauer den Flieger doch irgendwann nur noch als kleinen Punkt“, sagt der deutsche Bundestrainer Werner Schuster, „und wenn es einen überragenden Springer wie derzeit Peter Prevc gibt, würde der vielleicht 50 Meter weiter als der nächstbeste Springer fliegen – da ist der Wettkampf doch nicht mehr spannend.“ Zudem würden die aerodynamischen Kräfte wegen des im Quadrat steigenden Luftwiderstands irgendwann immer schwieriger zu beherrschen sein. Schon jetzt heben die Flieger mit etwa 100 Stundenkilometern vom Schanzentisch ab und landen nach bis zu acht Sekunden Flug mit 130 Sachen. Die Belastung bei der Landung beträgt bis zu 5 g – das entspricht einem freien Fall aus 2,5 Metern Höhe.

Freund schwärmt: „Traumhaftes Fluggefühl“

Vielleicht noch wichtiger: Mit den mentalen Anforderungen bewegt man sich beim Skifliegen im Grenzbereich. Beim Flug durch die Lüfte auf zwei nur 11,5 Zentimeter breiten Flughilfen geht der Puls hoch bis 180, der Adrenalinausstoß erreicht das Vierfache des normalen Wertes. Es ist eine Gratwanderung zwischen Hochgefühl und Krankenhaus, zwischen Traum und Albtraum: Wie schlimm ein Sturz enden kann, hat der jeweils dreimalige Olympiasieger und Skiflug-Weltmeister Thomas Morgenstern vor zwei Jahren am Kulm erlebt. Er hatte sich in der Luft überschlagen, war aus großer Höhe auf den Hang gekracht und sich neben einer Lungenquetschung auch eine Schädelprellung zugezogen. „Ich bin extrem dankbar, dass ich noch am Leben bin“, hat Morgenstern danach gesagt. Und trotzdem strebt der Mensch nach immer neuen Rekorden.

Der österreichische Universitätsprofessor Wolfram Müller verfasste 1997 unter den Titel „Skisprung-Utopie“ eine wissenschaftliche Abhandlung anhand einer fiktiven 400-Meter-Schanze. Sein Fazit: „Beim Skifliegen nimmt der Skispringer ab ungefähr 200 Metern einen fast konstanten Gleitwinkel ein. Vom Standpunkt der Physik und der Aerodynamik ist ein 400-Meter-Sprung nicht auszuschließen.“

Werner Schuster findet den Gedanken an Flüge auf 300, 400 oder gar 500 Meter trotzdem derzeit für sehr hypothetisch. Schließlich habe es vom ersten gestandenen 200-Meter-Flug im Jahr 1994 (Toni Nieminen) bis zur ersten Landung auf der magischen Marke von 250 Metern (Peter Prevc/2015) 21 Jahre gedauert. Severin Freund bezeichnet diese Grenzerfahrungen als unbeschreibbar schön: „Dieses traumhafte Fluggefühl gibt es außerhalb des Skifliegens einfach nicht. Höchstens Basejumpen oder Wingsuit-Fliegen kommen vielleicht in die Nähe – aber das wurde mir verboten.“ Sein Coach Schuster beschreibt die Kräfte im Skiflug als so groß, „dass es einem fast die Schuhe auszieht.“ Dafür müsse man einen Schuss Kaltschnäuzigkeit und Brutalität mitbringen. „Auch für mich als Trainer ist das eine Belastung und riesige Verantwortung und ich bin froh, wenn alle heil unten sind.“