Zwei Experten für den NSU-Terror im Pfarrwiesen-Gymnasium: Wolfgang Schorlau (links) und Clemens Binninger Foto: factum/Granville

Der Schriftsteller Wolfgang Schorlau und der CDU-Abgeordnete Clemens Binninger diskutieren mit Schülern des Pfarrwiesen-Gymnasiums über den Terror von Rechtsradikalen und einen der größten deutschen Kriminalfälle.

Sindelfingen - Zehn kaltblütige Morde, zwei Sprengstoffattentate und 15 Banküberfälle zwischen 2000 und 2011 werden der rechtsextremen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) zugerechnet. Bestand diese Gruppe tatsächlich nur aus drei Personen, wie die offiziellen Ermittlungsergebnisse lauten? Oder wurde das NSU-Trio nicht doch von mächtigen Kräften, in- und ausländischen Geheimdiensten, gesteuert? Diese Frage beschäftigt viele Menschen. Der Stuttgarter Schriftsteller Wolfgang Schorlau hat aus diesem großen Kriminalfall einen Roman gemacht, in dem er genau diese These vertritt. Auch wenn er betonte, einen Roman und kein Sachbuch geschrieben zu haben, die Fakten des Falls hat er genau recherchiert.

Die Zehntklässler des Sindelfinger Pfarrwiesen-Gymnasiums, die sich in einem Projekt intensiv mit den NSU-Morden befasst haben, hatten Schorlau zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Als Gegenpart fungierte mit dem CDU-Bundestagsabgeordneten Clemens Binninger ein ausgesprochener Kenner des komplexen Falls. Als Vorsitzender der beiden parlamentarischen Untersuchungsausschüsse hat er sich intensiv mit allen Details beschäftigt.

Schorlau glaubt bei so vielen Fehlern nicht an Zufall

Sehr viele Fehler seien bei den Ermittlungen zu den NSU- Morden und zum Tod der beiden NSU-Täter Mundlos und Böhnhardt gemacht worden. Darin waren sich die beiden einig. Und es gibt noch viele offene Fragen – auch das ein gemeinsames Fazit. Die Schlussfolgerungen, die sie daraus ziehen, sind jedoch andere. Clemens Binninger, ehemaliger Polizeibeamter, glaubt fest an den Rechtsstaat. „Ich habe bei aller Kritik an einzelnen Akteuren Vertrauen in die Polizei.“ Schorlau hingegen sagt: „So viele Fehler können kein Zufall sein. Da muss Absicht dahinterstecken.“

Minutiös listete er die Widersprüchlichkeiten bei den Ermittlungen zum Tod von Mundlos und Böhnhardt auf, der nach offiziellen Ermittlungen ein Suizid sein soll: So sei beispielsweise der von den Ermittlern geschilderte Tatablauf allein aus Zeitgründen unmöglich. Es fehlten Blutspuren an den Wänden, die es bei der Selbsttötung geben müsse. Zudem habe der leitende Polizeipräsident den Tatort nicht abgeriegelt, sondern den Wohnwagen sofort abschleppen lassen. Dabei seien viele Spuren vernichtet worden.

Für Schorlau ist das ein Beweis dafür, dass die beiden Männer bereits tot waren, als sie angeblich einen Bankraub begangen haben sollen, und damit ein Beleg, dass es weitere Mittäter gegeben haben muss. Auch Binninger sieht nicht alle Fragen zu dem, was im Wohnwagen passiert ist, als geklärt an. Die für ihn entscheidende Frage ist: Warum haben die beiden Männer drei Stunden lang im Wohnwagen gewartet, statt nach dem Bankraub gleich zu fliehen? Trotzdem glaubt er an die Suizid-Version.

Zwielichte Machenschaften des thüringschen Verfassungsschutzes

Kritik äußerten beide Diskutanten an der Arbeit des thüringischen Verfassungsschutzes, der in den 1990er Jahren unzählige V-Leute in der rechtsradikalen Szene anheuerte. „Jeder Vierte in der Szene stand auf der Gehaltsliste der Verfassungsschützer“, sagte Schorlau. Völlig unglaubwürdig sei, dass trotz dieser Kontakte niemand etwas vom NSU-Trio gehört haben wolle. Auch für Binninger gibt es in diesem Zusammenhang noch ungeklärte Fragen.

Sein Fazit: Anders als der Untersuchungsausschuss des Landtags sieht er noch längst nicht alle Fragen geklärt. Seine Hoffnung: „Wir haben gefragt, was man nur fragen kann. Unser Bericht, in dem wir auch die offenen Fragen auflisten, kann vielleicht später einmal als Basis für eine neue Untersuchung dienen.“ Dies ist ihm wichtig. Anders als beim Oktoberfest-Mord von 1980, den man schnell zu den Akten gelegt und erst 2015 wieder aufgerollt habe, gebe es nun zumindest eine Grundlage mit vielen Details.

Doch auch Binninger ist nicht sicher, ob jemals alles aufgeklärt wird. Schwierig sei das vor allem für die Familien der Opfer. Wichtig sei, dass sich ein solcher Fall nicht wiederhole. Deshalb gebe der Untersuchungsausschuss Empfehlungen, was sich bei Justiz, Polizei und Verfassungsschutz ändern muss. Eine davon: „Der NSU-Fall muss als Lehrfall in alle Lehrpläne von Polizei, Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz.“ Dem Schriftsteller ist Binninger dankbar. „Er hält mit seinem Buch die Diskussion über das Thema wach.“

Schüler moderieren die Diskussion

NSU
Eine Mordserie, die zwischen 2000 und 2006 vor allem türkischstämmige Bürger traf, wurde von der Polizei lange Zeit als Schutzgeldmorde behandelt. Erst spät kamen die Ermittler auf das NSU-Trio, das lange unentdeckt in Zwickau lebte. Auch der Mord an der Polizistin Michele Kiesewetter 2007 in Heilbronn geht auf das Konto des NSU. Die Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos sollen sich 2011 nach einem Raubüberfall in einem Wohnwagen in Eisenach erschossen haben. Dem Mitglied Beate Zschäpe wird seit 2013 der Prozess gemacht.

Binninger
Clemens Binninger ist seit 2001 CDU-Bundestagsabgeordneter des Wahlkreises Böblingen. Er hat sich als Leiter des Untersuchungsausschusses zum NSU einen Namen gemacht. Bei der Bundestagswahl im Herbst tritt Binninger nicht mehr an.

Schorlau
„Die schützende Hand“ heißt der Krimi von Wolfgang Schorlau. Darin beschäftigt sich der Stuttgarter Ermittler Georg Dengler mit den NSU-Morden.

Moderation
Die Zehntklässler des Pfarrwiesen-Gymnasiums haben den Roman gelesen und sich mit dem NSU befasst. Die Diskussion moderierten die Schüler Lena Maric, Miguel Gonzalez und Lisa Emberger.