Zwei Kolkraben (Corvus corax) stehen im brandenburgischen Briesen auf einem toten Reh. Foto: dpa

Es sind Szenen wie aus einem Hitchcock-Thriller: Tote Kälbchen auf einer Weide. Junge Kolkraben sollen für das Morden verantwortlich sein. Ein Verhaltensbiologe sagt: Quatsch!

Perleberg - „Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch.“ Welche Vögel Jesus meinte, als er in der Bergpredigt (Matthäusevangelium, Kapitel 6, Vers 26) von ihrem gesegneten Dasein sprach, wissen wir nicht. Die ornithologische Beschreibung könnte aber gut zum Kolkraben (Corvus corax) passen, einem prächtigen Singvogel aus der Familie der Rabenvögel (Corvidae), der zur Gattung der Raben und Krähen zählt.

In Nordbrandenburg geht der flatternde Tod um

Im Norden Brandenburgs sitzen sie auf den Bäumen und tun so, als ob sie kein Wässerchen trüben könnten. Die Kolkraben bereiten den dortigen Landwirten Kopfzerbrechen. Die Bauern sagen, dass die großen schwarzen Vögel ihre grasenden Kuhherden auf den Weiden attackieren. Sie hätten es vor allem auf die wehrlosen, neugeborenen Kälbchen abgesehen. Erste Todesopfer seien zu beklagen.

„Vier meiner Kälber sind bereits verendet, andere verletzt“, sagt Olaf Strese, Geschäftsführer der Agrargenossenschaft Kletzke in Prignitz. Andere Räuber wie Füchse oder Greifvögel, die man sonst gerne verdächtigt, kommen für ihn nicht in Frage. „Ich beobachte immer wieder, wie sich junge Kolkraben der Herde nähern und zwischen den Tieren aufmerksam herumlaufen“, sagt er. Sie hätten genau im Blick, wenn eine Kuh kalbe. In diesem Moment griffen sie ihr Opfer offenbar an, berichtet er.

Raben-Killervögel: So ein Unfug, sagt der Ornithologe

Der Verhaltensbiologe Dieter Wallschläger sieht die Rabenvögel zu Unrecht verdächtigt. „Kolkraben sind gar nicht in der Lage, ein lebendes Kalb anzugreifen“, erklärt er. Über Jahrzehnte hat der emeritierte Professor an der Potsdamer Universität diese Vögel und ihr Zusammenleben mit Weidetieren in der Region untersucht.

Bauer Strese glaubt es besser zu wissen. Seiner Ansicht nach endet das Zusammenleben zwischen Vögeln und Vierbeinern oft tödlich. Er hat aufgerissene Kälberkörper gesehen, mit freiliegendem Gedärm und herausgepickten Augen. Teilweise waren nur noch die Knochen vorhanden, erzählt er. Auf seinen beiden Weiden seien etwa ein Dutzend Vögel unterwegs.

Für die Geschäftsführerin des Kreisbauernverbandes Christine Stettin ist das angeblich üble Treiben der Kolkraben - vor allem „Junggesellen“ sind ihrer Aussage nach auf Raubzug - ein seit Jahren in der Region bekanntes Problem. „Wir wollen, dass sie abhauen“, sagt Stettin. Auf Schäden – insgesamt 3000 bis 4000 Euro – blieben die Landwirte sitzen. „Es gibt nur eine Möglichkeit: Vögel müssen entnommen werden“, betont Stettin, die auch Jägerin ist. Entnehmen: Das heißt jagen, schießen, morden. Eine Ausnahmegenehmigung zum Abschuss einiger der geschützten Vögel sei gestellt worden, so Stettin. Obwohl der Erfolg zweifelhaft sei.

Beim Agrarministerium in Potsdam ist das Problem bekannt, bestätigt ein Sprecher. Geprüft werden viele Möglichkeiten, auch die Vertreibung mit automatischen Schussanlagen wie es in Obstplantagen bereits gemacht wird. Der Lärm soll die Raben verscheuchen.

„Es gibt keinen Beweis, dass Kolkraben lebende Tiere töten“

Kolkraben-Experte Wallschläger geht davon aus, dass die Vögel nur Aas gehen. „Es gibt keinen Beweis, dass sie lebende Tiere töten.“ Sie würden völlig zu Unrecht verdächtigt. „Ihre Schnäbel schaffen es gar nicht durch das Fell einer Kuh hindurch.“ Sie warteten lediglich auf Tot- oder Nachgeburten, die sie fressen.

Auch der Naturschutzbund (Nabu) verortet die Geschichten von schwarz gefiederten Kälberkillern ins Reich der Märchen und Legenden. Die Raben würden die Herden zur Geburtszeit stören sowie kranke oder verletzte Tiere angreifen, aber nicht neugeborene gezielt attackieren.

„Kolkraben sind sehr intelligent und gelehrig“, sagt Wallschläger über die Vögel mit dem glänzendem schwarzen Gefieder. Sie spielten gern und würden schnell erkennen, wo es für sie leckeres Futter gibt. Sie zwicken beispielsweise schlafenden Kälbern in den Schwanz, die dann aufstehen, wie er sagt. „Dann fällt Kot und der schmeckt den Kolkraben besonders gut“, berichtet er. Bald ziehen die Kolkraben aber ohnehin weiter: Spätestens wenn im Mai die letzten Kälbchen geboren wurden.

Grusel-Story à la Hitchcock

Die Geschichte von den mordenden Kolkraben erinnert an eine berühmte Grusel-Story, die der britische Regisseur Alfred Hitchcock verewigte. „Die Vögel“ („The Birds“), ein Spielfilm von 1963, der auf der Kurzgeschichte der englischen Schriftstellerin Daphne du Maurier basiert. In dem Horrorklassiker sind es Möwen, Sperlinge und Krähen, die die Bewohner des kalifornischen Küstenstädtchens Bodega Bay fast um den Verstand und einige um ihr Leben bringen. Da können Brandenburgs aufgeschreckte Landwirte von Glück sagen, dass es die hiesigen Rabenvögel nicht auf sie abgesehen haben.