„Allegiance with Wakefulness“ heißt diese Arbeit. Die Fußsohlen zieren Gedichte von iranischen Lyrikerinnen in Farsi. Foto: Shirin Neshat, Courtesy Gladstone Gallery, New York/Brüssel

Die Kunsthalle Tübingen zeigt neue Fotografien und Videoarbeiten der iranischen Künstlerin Shirin Neshat. Seit 1975 lebt sie in New York, ist im Westen längst ein Star der Kunstszene. Doch in ihren von starken Kontrasten geprägten, symbolisch aufgeladenen Werken lässt ihr Heimatland sie nicht los.

Tübingen - Man mag ihnen nicht begegnen. Unheilvoll eilen Scharen von Männern über die karge Landschaft. Je näher sie rücken, desto bedrohlicher. Ganz leise schmiegt sich die Frau dagegen in den Spalt eines Baumstammes, der ihre Konturen perfekt umfasst. Man ahnt, dass diese Meute herbeieilender Männer nichts Gutes verheißt. Wie im Krimi nähert sich die männliche Übermacht – bis es auf dem Höhepunkt der Spannung zur plötzlichen Umkehr kommt. Die Frau ist mit dem Baum eins und unsichtbar geworden ist. Die Kerle rücken wieder ab.

Die Videoarbeiten von Shirin Neshat sind ganz großes Kino. Die Musik: dramatisch. Die Spannung: sorgfältig konstruiert. Die Atmosphäre: beredt – Licht, Luft, Himmel, Farben und Formen, jedes Detail spielt in diesem bedeutsamen Drama eine Rolle. Allerdings lässt sich Shirin Neshat sehr viel Zeit. Man muss sich auf ihren langsamen Rhythmus einstellen, eintauchen in die fremden Sphären – und sollte also Ruhe mitbringen für Shirin Neshats Ausstellung „Frauen in Gesellschaft“ in der Kunsthalle Tübingen, die am Wochenende eröffnet wurde. Sie zeigt hauptsächlich neue Arbeiten dieser in der Kunstszene so berühmten iranischen Künstlerin, die 1975 als junge Frau zum Kunststudium nach New York aufbrach und eine Blitzkarriere im Westen erlebte.

Schwermütig, fast so düster wie vor der Sanierung kommt die Kunsthalle Tübingen daher, denn die Fotografin und Videokünstlerin Shirin Neshat arbeitet in Schwarz-Weiß. Große, ernste Gesichter schauen einem in der Fotoserie „The Book of Kings“ (2012) entgegen, mit der Neshat auf die Grüne Rebellion im Iran reagierte, bei der Tausende gegen die Herrschaft der Mullahs aufbegehrten. Neshat unterteilt die Akteure in drei Gruppen: hier die „Masse“, bestehend aus Menschen verschiedensten Alters, deren Gesichter sie frontal fotografiert hat. Dort die „Patrioten“ mit der Hand auf der Brust. Und dazwischen die „Schurken“, unrasierte Männer mit blutrünstigen Tätowierungen, die Schlachten, Reitertruppen und Krieger zeigen, die mit dem Schwert Köpfe abschlagen.

Neshat arbeitet mit starken Kontrasten

Auch bei ihren Videoarbeiten setzt Shirin Neshat auf Schwarz-Weiß – in jeder Beziehung. Sie arbeitet mit starken Kontrasten. Nähe und Weite stellt sie gegenüber, Vorwärtsdrängen und Rückzug, Bewegung und Verharren, Individuum und Masse. Sie denke dualistisch, sagt die Künstlerin, denn ob gut und böse, heiß und kalt, Schönheit und Gewalt, das eine könne ohne sein Gegenteil nicht existieren. Und so ist auch die Rolle der Frau im Islam, die Shirin Neshat immer wieder verhandelt, bei ihr nicht ohne die Männer zu denken. „Turbulent“ nennt sich eine Videoarbeit aus dem Jahr 1998, bei der Shirin Neshat – wie so oft - zwei Leinwände gegenüberstellt. Links ein Mann, der vor großem Auditorium ein persisches Liebeslied aus dem 13. Jahrhundert singt. Rechts eine Frau, die mit der Stimme zwischen Schreien, Jammern, Wehklagen improvisiert – vor leeren Rängen, weil sie als Frau im Iran nicht in der Öffentlichkeit auftreten darf. Trotzdem ist die Sängerin es, die sich mit ihrem modernen Gesang Neuem öffnet, während der Mann in der Tradition verhaftet ist.

Auch in „Rapture“ von 1999 prallen männliche und weibliche Sphären aufeinander. Die Männer, allesamt westlich gekleidet mit weißem Hemd und schwarzer Hose, tummeln sich in einer Art Festung, die ganz in Schwarz verhüllten Frauen sind dagegen auf freiem Feld verstreut. Sie sind es, die sich schließlich in einem Boot aufmachen zu einem neuen Leben, während die Männer an der Brüstung stehen und ihnen nachwinken.

So schafft Shirin Neshat häufig symbolisch aufgeladene Bilder und eine atmosphärische Welt, die eher die Sprache der Lyrik oder alter Mythen spricht. Bei ihrer Fotografie wurde zu einer Art Markenzeichen, dass sie auf die nackte Haut der Porträtierten Schrift aufbringt. Als Neshat 1990 nach Jahren in den USA erstmals wieder in den Iran reiste, war sie fasziniert und abgeschreckt zugleich von dieser neuen Zeit, in der Frauen plötzlich unter den Schleier gezwungen wurden. Es entstand die Fotoserie „Die Frauen Allahs“: Porträts bewaffneter Frauen verhüllt im iranischen Ganzkörperschleier. Die unbedeckten Körperteile und Gesichter aber sind mit Schrift überzogen – mit Gedichten zeitgenössischer iranischer Lyrikerinnen, geschrieben in Farsi.

Die Heimat Iran entpuppt sich als Bestie

Was in der Fotografie die Schrift, ist bei den Videoarbeiten, die Neshat seit den Neunzigerjahren macht, die Naturkulisse. Mächtig hängt der Himmel über Landschaften, in deren Weite sich der einsame Mensch verliert. Auch bei diesen Mehrkanal-Videoinstallationen bleibt Neshat ihren Stilmitteln treu und nutzt starke Kontraste. Sie wechselt zwischen Natur und Architektur, die für sie auch Symbole für Ursprüngliches und Zivilisation sind. Letztlich sind es existenzielle Zustände, die Neshat atmosphärisch einfängt, losgelöst von Raum und Zeit. In der Tübinger Ausstellung widmen sich mehrere Videoarbeiten dem Thema Traum. In „Illusions & Mirrors“ (2013) durchstreift eine junge Frau, dargestellt von Natalie Portman, ein altes, herrschaftliches Gebäude, wo sie auf ihre Ahnen, die Mutter und schließlich sich selbst trifft.

Auch in „Roja“ (2016) begegnet eine junge Frau ihrer Mutter. Getrieben von einer Vision, verlässt sie eine Theateraufführung und streift über unwirtliches Gelände – der Frau entgegen, die schemenhaft in der Ferne auftaucht. Der Blick fängt sich fest, dann wieder verschwimmt das Bild – bis die beiden sich endlich gegenüberstehen, Mutter und Tochter. Shirin Neshats Mutter ist ihre letzte Verbindung in den Iran, die Begegnung mit ihr steht in dem Film also letztlich auch für die Begegnung mit der Heimat, dem Vaterland. Das entpuppt sich am Schluss allerdings doch als Bestie: Grob stößt die Mutter die junge Frau fort, die einsam in die Lüfte entschwebt.