Fausto Kindl hält seit acht Jahren Hühner in einem Hinterhof im Westen. Die Projektgruppe Stadtbelebung hat diesen Hof zur grünen Oase ausgebaut. Foto: Kathrin Wesely

Hinterhöfe sind verborgene Orte, an denen sich kleine Paradiese verbergen können. Manchmal wird dort aber auch geschraubt, Kunst fabriziert, gegessen oder gefeiert. Wir haben in einige Höfe geschaut und berichten zum Auftakt unserer Serie aus der Rötestraße.

S-West - Die Eier wurden Elsbeth und Rosi einfach untergeschoben. Sie haben wohl erst ein bisschen komisch gegluckt, wird berichtet, dann aber klaglos drauflos gebrütet. Vergangene Woche sind die Küken geschlüpft, und die Hennen haben sich gefreut, als wären’s ihre eigenen, versichert Fausto Kindl, der Herr der Hühner. Fünf Hennen hält er in dem Hinterhof zwischen Seyffer-, Ludwig-, Röte- und Gutenbergstraße.

Außerdem wohnen ein weißes und ein braunes Kaninchen, Sahne und Karamell, in dem kleinen Gehege inmitten der grünen Hinterhofwildnis. Ein Hahn gehört nicht zur Familie, weil sich die Anwohner ihren Wecker lieber selber stellen. Wenn Fausto Kindl Küken will, muss er sich anderswo befruchtete Eier besorgen und sie seinen Hennen unterjubeln.

Das grüne Hinterhofidyll mitten im dicht bebauten Stuttgarter Westen ist für die Anwohner Spielplatz, Festwiese, Chillzone und grüne Lunge in einem. Es gibt Klettermöbel, einen kleinen Bolzplatz, eine Tischtennisplatte, Bänke, Picknickplätze, Spielgeräte, Büsche und Bäume. Julia Sigel kommt wie viele andere Eltern oft mit ihrer kleinen Tochter her, weil man die Kleine einfach mal laufen lassen kann, ohne Angst zu haben, dass sie in ein Auto rennt. „Wir haben in unserer Wohnung eigentlich ein Zimmer zu wenig“, sagt Sigel. „Aber die Lage mit dem Garten ist so gut, dass wir das in Kauf nehmen.“

Fausto Kindl ist ein Hinterhofkind

Bislang, sagt Sigel, sei sie nur Nutznießerin des Hinterhofes. Nun aber wolle sie etwas an die Allgemeinheit zurückgeben und sich in dem Verein engagieren, der diese Oase erst erschaffen hat: Ohne die Projektgruppe Stadtbelebung, kurz Hinterhofverein, wäre der Bereich vermutlich eine betonierte Autoabstellfläche und nicht jener Freiraum für Kommunikation, Spiel und Erholung, der er heute ist. Der Verein hat seit seiner Gründung 1981 für den grünen Hof gekämpft, ihn angelegt, gepflegt, bevölkert und mit rauschenden Festen belebt. Inzwischen hat die erste Kindergeneration, die hier den Sandkasten durchpflügte, schon selber Nachwuchs.

Auch der 20-jährige Fausto Kindl ist ein Hinterhofkind. Wohl keiner ist der grünen Oase so sehr verbunden wie der angehende Gärtner, der nicht bloß seit acht Jahren Hühner hält, sondern auch Beete anlegt. Leider dünne die Gruppe derer, die sich ehrenamtlich um den Hof kümmern wollen, allmählich aus, sagen Claudia Kindl und Sebastian Klotz vom Verein. In den vergangenen drei Jahrzehnten habe es ganz gut geklappt, der Staffelstab sei immer weitergereicht worden. Aber jetzt fehle der Nachwuchs. Dabei gebe es genügend Profiteure – nicht bloß die Eltern kleiner Kinder, sondern jeder, der die Luft aus der kleinen grünen Lunge atmen dürfe und sich des ausgeglicheneren Mikroklimas erfreue.

Für’s Gemüt sei der Hinterhof ebenfalls gut, sagt Klotz: „Immer, wenn ich Besuch bekomme und der dann nach zwei Stunden Parkplatzsuche endlich auf meinem Balkon steht, staunt er und fragt: ‚Kann das sein? Höre ich hier mitten in der Großstadt Hühner gackern?’“

Glosse: Kakophonie im Kunstregen

S-Süd - Der Nieselregen pinselt einen Regenbogen in den Hinterhofhimmel. Unterdessen brennt draußen vor dem Haus die Sonne unerbittlich auf den Asphalt, das Quecksilber kriecht über die 40-Grad-Marke, der Stuttgarter Talkessel brodelt. Aber hintenrum herrscht ausgeglichenes Kontinentalklima, Schatten, schwache Brise, Gardena-Nieselregen. Also flink das kleine Behaglichkeits-Kit installiert: Tisch, Stuhl, Kaffee, Zeitung, Unterhaltungselektronik. Kissen. Sonnenschutz. Vielleicht doch noch einen Keks zum Kaffee. Irgendein Utensil fehlt immer zum perfekten Glück.

Nach einer Weile ist Bequemlichkeit hergestellt. Da hör’ ich es schon. Sie denken jetzt an den Laubbläser. Aber der hatte schon am Samstag seinen Auftritt, hat Bonbonpapierchen von der einen in die andere Ecke gepustet. Das Lärmmanagement übernehmen an diesem Sonntagmittag fünf kleine Jungs mit ihrem aufblasbaren Schwimmbassin. Niedlich nervtötend. Das Kriegsgebrüll, Planschen und Glucksen vor Glück hallt die Fassaden hinauf. Muss man aushalten, will man sich nicht als Ekel outen. Mein Nachbar vis à vis hat da weniger Scheu. Nach 35 Minuten tritt er auf seinen Balkon und beginnt zu bellen: „Lärm“, „Unverschämtheit“, „Mittagsruhe“. Dann, etwas milder: „Könnt ihr euch nicht in Zimmerlautstärke unterhalten?“

Ums Schwimmbecken ist es jetzt still geworden – „Zimmerlautstärke“. Was nicht lange vorhält. Noch einmal versucht es der Nachbarn mit Gepolter, dann geht er zum Gegenangriff über, wuchtet Boxen auf die Fensterbank und justiert ihren Schall Richtung Hof. So, jetzt zeigt er den Rotznasen mal, wo der Bartl den Most holt: Andrea Berg, das komplette Atlantis-Album. Und ich? Kann doch gar nichts dafür, dass nebenan die Kinder krakeelen. Ich bin hier bloß der Kollateralschaden. Wo gejodelt wird, da fallen Späne.

Längst schon hat die Sonne ihren Zenit überschritten, da kommen endlich Freunde und Helfer, mich von dem Bösen zu erlösen. Irgendein Anwohner hat die Uniformierten alarmiert. Auf ihr Wort erstirbt Andrea Bergs Stimme. Und erst jetzt vernimmt man darunter die verzweifelte akustische Gegenwehr eines weiteren Innenhofanrainers. Unter einer Patina aus Kratzen und Rauschen zwar, aber angetrieben von unverwüstlichem Lebensdurst schmettert Enrico Caruso sein „Bella figlia dell’ amore“ in den Hof. Nun, da der Schlagerfee der Garaus gemacht, leuchtet der Tenor wie ein junger Märzenbecher unterm schmutzigen Schnee hervor. Sollte sich nicht gerade der nächste akustische Anschlag in Vorbereitung befinden, darf ich den Rigoletto vielleicht auch noch bis zu Ende hören.