An der Rundkettelmaschine ist Carmen Weber zu Hause. Die 69-Jährige hilft aus, wann immer es klemmt. Foto: Ines Rudel

Das Handwerk habe goldenen Boden, heißt es immer. Doch viele einst weit verbreitete Berufe sind selten geworden. Einer davon ist der der Kettlerin. Dabei ist die Kettelnaht ein Merkmal hochwertiger Strickwaren.

Göppingen - Die Maschen sind so winzig, dass sie vor den Augen verschwimmen. Carmen Weber scheint sie mehr zu erspüren als zu sehen. Mit kleinen, flinken Handbewegungen stößt sie jede einzelne Masche auf eine Nadel des sogenannten Nadelkranzes der Rundkettelmaschine. Die 69-Jährige ist gelernte Strickerin. Gleich nach ihrer Lehre hat sie sich auf das Ketteln spezialisiert, eine Tätigkeit, die kaum noch jemand beherrscht. „Das ist ein wunderschönes Geschäft“, schwärmt Carmen Weber, die noch immer in der Firma Röder-Strick im Göppinger Stadtbezirk Jebenhausen aushilft, wenn Not am Mann ist.

Je feiner das Garn, desto mehr Geschick braucht es, die Maschen auf die Nadeln aufzustoßen. Beim Ketteln werden zwei Maschenkanten eines Kleidungsstücks durch eine dehnbare Naht miteinander verbunden. Das sieht nicht nur gleichmäßiger aus, es trägt auch nicht auf. Da das Ketteln viel Fingerspitzengefühl und Konzentration erfordert, gilt die Kettelnaht als ein Merkmal hochwertiger Strickwaren. Deshalb achtet Carmen Weber beim Kauf eines Pullovers immer darauf, dass er eine Kettelnaht aufweist. Und sie kann es partout nicht leiden, wenn jemand einen Pullover beim Ausziehen grob über den Kopf zerrt. „Das tut mir in die Seele rein weh, man soll mit den Pullovern sanft umgehen“, erklärt sie kategorisch.

Ein vielseitiger Beruf

Die Göppingerin hat ihr Handwerk von der Pike auf gelernt. Dabei ist sie eher zufällig dazu gekommen. Ein Verwandter, der Meister in der früheren Strickerei Preßmar in Salach war, meinte, dass das „Mädle“ doch eine Lehre zur Strickerin machen könne. Carmen Weber willigte ein, obgleich sie befürchtete, kein großes Talent für diesen Beruf zu haben. Im Handarbeitsunterricht habe sie im Stricken und Häkeln immer eine Vier oder sogar eine Fünf bekommen, erzählt sie. „Meine Handarbeitslehrerin hat mich immer verseggelt.“

Der Beruf der Strickerin ist vielseitig. In ihrer Ausbildung lernte Carmen Weber zu steppen, Overlock zu nähen, zu repassieren – und eben zu ketteln. Als sie fest angestellt wurde, entschied sie sich für das Ketteln. „Ich bekam ein halbes Jahr Zeit, um mich einzuarbeiten, dann musste es laufen. Wir arbeiteten im Akkord“, erzählt sie. Und siehe da, sie hatte das Richtige für sich gefunden. Seither verbindet sie Einzelteile der Strickwaren mit einer Kettelnaht, fasst die Ränder der Kleidungsstücke mit Blenden ein und und und. „Das Ketteln ist vielseitig, man muss mit den verschiedensten Materialien umgehen, man hockt nicht so stupide rum“, sagt sie. Diese Leidenschaft hat sich Carmen Weber bewahrt. „Ich arbeite, bis ich 100 bin“, scherzt sie. Ihr Chef, Uwe Röder, hört das gern. Es sei fast unmöglich, Kettlerinnen zu bekommen, sagt er.

Gespür für Strick

Die Rundkettelmaschine schnurrt, und schon hat der Pullover aus Schurwolle einen Kragen ohne Fehl und Tadel. Hätte die Kettlerin die Maschen nicht so akkurat aufgestoßen, dann würde das Kleidungsstück jetzt am Kragen Falten schlagen oder womöglich sogar Löcher aufweisen. Das Gespür für Strick sei bei dieser Tätigkeit unerlässlich, sagt Carmen Weber. „Strick ist dehnbar, das ist das Besondere.“ Je nach Stärke des Garns benutzt sie eine andere Maschine. Die Auswahl in der Strickerei Röder ist groß. An einer jeden hat Carmen Weber schon gesessen.

Es muss nicht nur genau gearbeitet werden, es muss auch flott gehen. „In sieben Stunden mache ich 80 bis 90 Kragen drauf“, sagt Carmen Weber. Für sie spielt es auch keine Rolle, ob sie ein Kleidungsstück aus grober Schurwolle oder aus feiner Merinoschafwolle vor sich hat. Ein jedes Material, so sagt sie, habe seinen Reiz.