Die „soziale virtuelle Realität“ könnte sich zu einem Megatrend entwickeln. Immer mehr Menschen treffen sich im virtuellen Raum, sprechen, spielen und zeigen sogar Gefühle. Ein Selbstversuch zeigt die Faszination – und die Schattenseiten.

Hier stimmt etwas nicht. Schon aus dem Augenwinkel sehe ich, wie dieser Mann aus der Ecke des Raumes auffallend zielstrebig auf mich zukommt. Ich bin zum ersten Mal hier, habe mich gerade eben hierhertransportiert aus der anderen, der echten Welt, indem ich ein Virtual-Reality-Headset und einen Kopfhörer aufgesetzt und damit meinen physischen Körper in meiner Wohnung zurückgelassen habe. Ich habe Controller, eine Art Armreif an einem langen Griff, die ich in dieser dreidimensionalen anderen Welt um mich herum wie Hände benutzen kann. Es ist, als wäre mein Geist an einen weit entfernten Ort gereist, wo er einen neuen Körper bezogen hat: einen sogenannten Avatar in Altspace VR, einem Treffpunkt in der virtuellen Realität (VR).

Dieser Treffpunkt wirkt wie ein besonderes Hotel in einem fremden Land, nur dass alle Räume und auch der Garten in Wirklichkeit nur aus Pixeln bestehen. Auch wenn es sich nicht so anfühlt: Die neuen Datenbrillen, für die man noch zwischen 700 und 2000 Euro ausgeben muss, stellen das alles nicht nur dreidimensional dar, sie verfolgen auch meine realen Bewegungen, so dass ich dort spazieren gehen kann.

Eigentlich würde ich mich gerne diesem verrückt echten Gefühl hingeben, das mich sofort überfällt: Ich bin eingetaucht in eine komplette Welt, drehe mich um mich selbst, gehe ein paar Schritte durch den großen hellen Raum zur Terrassentür, vor der Vögel zwitschern und Grillen zirpen. Ein Bach plätschert neben dem Haus. Eigentlich würde ich jetzt gerne diese andere Welt erkunden, die friedliche Atmosphäre genießen, mit den anderen Leuten plaudern. Eigentlich würde ich gerne erspüren, was es mit dieser „Social VR“ auf sich hat: mit der soziale Interaktion in der virtuellen Realität.

Eigentlich.

Die Zukunft ist mehr als ein Spiel

Aber nun steht dieser Mann direkt vor mir, viel zu nah. Ich sehe seinen riesigen roten Körper mit den breiten Schultern, ich höre seinen schweren Atem direkt an meinem Ohr. „Alarm“, sagt jede Zelle meines Körpers. Ich könnte mich wegdrehen, aber ich bin erstarrt. Ich schaue an mir herunter und sehe seine Hände an meiner Brust: ein Abbild seiner echten Hände. Sie werden mittels raffinierter Technik in die virtuelle Welt übertragen. Ich erstarre, glotze nur auf diese echten Hände eines fremden Mannes an meiner Brust, der irgendwo auf der Welt wie ich in einem Wohnzimmer steht und eine VR-Brille trägt. Als ich hochschaue, blickt er mir in die Augen. Er hält den Kopf schief, auch das eine Bewegung aus der echten Welt, von der Technik hierher übertragen, dann höre ich ihn leise lachen. Ich will einen Schritt zurückgehen. Aber da sind diese Treppen hinter mir, virtuell zwar, aber gleichzeitig täuschend echt. Was ist, wenn ich stolpere? Was ist real: der ebene Boden in meinem Wohnzimmer oder diese Stufen?

„Das alles ist so real!“ Immer wieder habe ich diesen Satz gehört von Menschen, die glücklich grinsend unter VR-Headsets hervorgeschlüpft sind. Auch ich habe einige Spiele ausprobiert und bin beeindruckt. Aber die Zukunft wird über das Spielen hinausgehen, sagen mir viele Forscher und Entwickler: Die Menschen wollen etwas gemeinsam erleben, sie wollen soziale Interaktion. Menschen, die zu weit voneinander entfernt leben, um sich real zu treffen, können in dieser virtuellen Welt gemeinsame Abenteuer erleben und Dinge gestalten. „Social VR“ könnte der nächste große Trend werden, sagen viele. Doch das hat auch seine Schattenseiten.

Ich entkomme dem übergriffigen Mann, indem ich die Brille abnehme. In den folgenden Tagen treffe ich Crystal, eine amerikanische Arzthelferin, und feiere mit ihr und ihren Freunden eine Nacht durch, mit Karten- und Trinkspielen. Jeder trinkt zwar bei sich zu Hause, aber wir trinken gleichzeitig „gemeinsam“ im Virtuellen: Da die Kopfbewegung übertragen wird, sehen wir, wer gerade das Glas hebt und rufen „Prost!“. Später führt Crystal mich zu einem atemberaubend schönen Sternenhimmel. „Welcome to the campsite“, steht auf einem Plakat, daneben brennt ein Lagerfeuer. „Das hat ein Freund programmiert für meine letzte Party“, sagt Crystal. Ihre Partys dauern immer zwei Tage, damit alle Freunde aus den verschiedenen Zeitzonen dieser Welt teilnehmen können.

Das Lächeln ist nur ein Gefühl

Am nächsten Tag plaudere ich mit Rico aus Brasilien über Neue Medien und lerne von ihm, wie man sich auf die Bäume versetzen und echte Höhenangst bekommen kann. Mit Christoph, einem deutschen Entwickler, rede ich über die Sitten im Netz und wie sich das alles weiterentwickeln könnte. Erstaunlich schnell vergesse ich, dass ich mit Figuren rede, die äußerlich aussehen wie Roboter. Durch die echte Stimme bleiben es Gespräche zwischen Menschen. In den nächsten Wochen werde ich wieder zum Kind mit täglich wechselnden Spielkameraden. Wir erkunden die vielen Räume in Altspace, in denen es allerlei Spiele gibt: Wir irren durch ein Labyrinth und kämpfen in einem extra dafür programmierten Gewölbekeller zum Spaß Schwertkämpfe, die den ganzen Körper beanspruchen. Wenn ich eines der Schwerter schwinge, hebe ich auch in Wirklichkeit in meinem Wohnzimmer den Arm mit dem Controller. Die Stiche gleiten durch unsere virtuellen Körper hindurch, sie sind nicht zu spüren – Gott sei Dank.

Eines Abends reißt mich eine lilafarbene Frau aus meiner verträumten Stimmung. Ihre runden Augen leuchten sanft auf, als sie sich mit dem Namen „Sana“ vorstellt. Sie hat eine warme weiche Stimme. Obwohl ich ihre Mimik nicht sehe, habe ich das Gefühl, dass sie mich anlächelt. Es sind kleine Signale, die sie aufmerksam wirken lassen. Ihr leicht geneigter Kopf, das sanfte Nicken, das aus dem echten Leben in die virtuelle Welt übertragen wird. Ich erfahre, dass sie aus Ägypten stammt, eine gläubige Muslimin ist und jeden Abend von der echten in die virtuelle Welt reist.

Eine Krücke, die echte Realität zu ertragen

„Komm, ich zeig dir meinen Raum“, sagt sie plötzlich. Ich wähle im Menü „Sanas Time Machine“, Sanas Zeitmaschine, der Rechner braucht ein paar Sekunden, dann stehe ich in einem großen Zimmer mit einem Kamin, ein gemütliches Feuer knistert, an der Wand hängen Malereien und Fotografien mit arabischen Schriftzeichen. Sana bittet mich auf den Balkon: „Willkommen in meinem Reich, schau dich um.“ Zeitreisen könne sie allerdings nicht anbieten, sagt sie und klingt wehmütig. Das Thema interessiere sie nur aus literarischer Sicht. Der Himmel ist lila, ihre Lieblingsfarbe, in der Luft schweben kleine Lichtkugeln, Sterne, so groß wie Schneeflocken, immer wieder fliegt eine zwischen uns vorbei. Sanas Zeitmaschine ist ein Gegenentwurf zur Hektik in den anderen Räumen, zu den kurzen oberflächlichen Gesprächen mit vielen verschiedenen Nutzern, zu den rastlosen Spielen. Ihr Alter will Sana nicht verraten. „Die Leute hier verurteilen dich, alles über 30 kommt ihnen uralt vor.“ Wir plaudern über verschiedene Kulturen, ihre Erlebnisse, ihre Freunde hier.

Im Laufe des Abends kommen immer wieder Besucher, Sana sagt zu jedem freundlich: „Willkommen in meinem Raum!“ Sie fragt jeden Vorbeikommenden, in welche Zeit er reisen möchte und wieso. Viele fliehen sofort, sie sind solche tiefgehenden Fragen nicht gewohnt in Altspace. Manche schauen sich nur schweigend um, reagieren nicht auf Sanas Worte, und verschwinden lautlos wie Geister. Mit den wenigen, die bleiben, ergeben sich philosophische Gespräche über den Sinn von Zeitreisen oder darüber, ob man besser in die Zukunft oder die Vergangenheit reisen sollte – und ob es erlaubt sein solle, in der Vergangenheit Dinge zu ändern.

Die Gespräche bleiben oberflächlich

Auf einem Gemälde in Sanas Raum sind Karnevalsmasken abgebildet, sie wirken verwittert. Daneben arabische Schriftzeichen. „Mein Gedicht“, sagt Sana und liest vor: „Wir alle verstecken uns hinter Masken, weil wir alle etwas Zerbrochenes in uns tragen.“ – „Manche geben das zu, andere verdrängen es, weil dieses zerbrochene Etwas schmerzt.“ Wir schweigen. „Tja, ich bin ein düsterer Mensch“, sagt Sana.

Am nächsten Tag trage ich noch die Melancholie des Abends mit mir herum. Ich ziehe eine erste Bilanz meines bisherigen virtuellen Lebens. Die ist ernüchternd: Die erste Begegnung war schlimm. Und alle weiteren zwar irgendwie ganz nett, aber außer jener mit Sana geprägt von oberflächlichen, gleichförmigen Gesprächen: Wer bist du? Woher kommst du? Was machst du hier? Mit welchem Gerät bist du hier? Das kann nicht mein soziales Leben der Zukunft sein. Ich würde gerne Beziehungen knüpfen, intensiver mit anderen Menschen zusammenkommen. Ich beschließe, Sana zu suchen. Ein paar Mal bin ich in ihrem Raum, aber sie ist nicht da. Ich würde ihr gerne eine Nachricht hinterlassen, aber das ist in Altspace nicht vorgesehen. Hier gibt es keine Post-its, keine Pinnwände, auch kein Telefon. Entweder man trifft jemanden oder eben nicht. Freundschaften zu pflegen ist nicht einfach in der virtuellen Realität.

Schließlich finde ich sie eines Abends in ihrer Zeitmaschine. Allein steht sie da und schaut nachdenklich auf eine Wand mit Zeichnungen aus einem Kinderbuch. Ein Junge und ein Mädchen sind darauf zu sehen, sie umarmen sich, aber vor jedem Bild scheint ein Netz aus Stacheldraht gespannt zu sein. Ein Freund aus der virtuellen Welt hat Sanas Kunstwerk für sie an der Wand erscheinen lassen. „Eine Geschichte über Menschen, die gegangen sind“, liest Sana vor, „und wir warten auf sie, obwohl sie nicht wiederkommen.“

Eine Zeitmaschine für Sana

Ich spüre einen Kloß in meinem Hals – und einen Wunsch in meinem Herzen: eine echte Zeitmaschine für Sana, die sie zu denen bringt, die gegangen sind und nicht wieder zurückkommen. Sie vermisst irgendjemanden offenbar so sehr, dass die virtuelle Realität für sie eine Krücke ist, um die echte Realität zu ertragen. Wir reden an diesem Abend über Gott und die Welt. Ob man Kinder lieber religiös erziehen oder ihnen die freie Wahl lassen sollte. Wie sie ihre Tochter während der Pubertät zum Tragen des Kopftuchs gezwungen hat und dass sie das jetzt bereut. Wie es sich lebt unter dem Kopftuch, das sie in ihrem anderen Leben ständig trägt.

Spät in der Nacht, als wir ganz allein sind, frage ich Sana: „Wohin willst du reisen mit deiner Zeitmaschine?“ „Ich würde gerne zurückreisen in die Zeit, in der mein Mann noch lebte. Er fehlt mir so sehr.“ Ich würde sie jetzt gerne umarmen. Aber sie sitzt irgendwo in Ägypten, ganz allein. Manchmal ist die Realität virtuell noch schwerer zu ertragen als im echten Leben.

Eva Wolfangel ist Wissenschafts- und Reportagejournalistin. Als ihr immer mehr Interviewpartner von der virtuellen Realität vorschwärmten und den Möglichkeiten, sich dort mit Freunden zu treffen, wurde sie neugierig. Sie recherchierte und fand Altspace, den bislang größten Anbieter von sozialen virtuellen Räumen. Nach einigen Wochen in der Rolle des frühen Nutzers einer neuen Technologie steht für sie fest: auch wenn es das echte Leben nicht ersetzt, hat das Konzept Zukunft. Es fühlt sich authentischer an als alle anderen Formen der Kommunikation über Distanzen. Sie hofft, dass die eher unangenehmen Situationen und Begegnungen in der virtuellen Welt die Ausnahme bleiben.

Das Animationsinstitut der Filmakademie Ludwigsburg forscht seit einiger Zeit im Bereich virtuelle Realität. "Longing for Wilderness" ist ein Film, der in 360-Grad-Perspektive interaktiv erfahrbar ist.