Viele denken, das Motiv für selbstverletzendes Verhalten sei der Wunsch nach Aufmerksamkeit – die meisten Jugendlichen wollen aber ihre Emotionen regulieren. Foto: Petair- Fotolia

Ritzen, kneifen, hauen, verbrennen: Selbstverletzendes Verhalten wird häufig noch immer stigmatisiert. Der Mediziner Paul Plener erklärt, weshalb Teenager sich selbst Wunden zufügen.

Stuttgart -

Herr Plener, wie oft kommt es vor, dass sich Jugendliche in Deutschland selbst verletzen?
Wir haben in den vergangenen Jahren verschiedene Studien an Schulen durchgeführt. Die Werte liegen je nach Studie zwischen 25 und 35 Prozent der Jugendlichen, die sich zumindest einmalig in ihrem Leben absichtlich selbst verletzt haben. Zwischen einem Viertel und einem Drittel aller Jugendlichen hat das also zumindest einmal versucht. Etwa vier Prozent verletzen sich häufiger.
In welchem Alter passiert das hauptsächlich?
Wir wissen inzwischen relativ gut, dass das Beginnalter von selbstverletztendem Verhalten etwa um das zwölfte und dreizehnte Lebensjahr liegt. Es gibt einen Häufigkeitsgipfel um das fünfzehnte und sechszehnte Lebensjahr. Und viele, die tatsächlich mit 17, 18 Jahren auch wieder aufhören.
Heißt das, Autoritätspersonen wie Eltern und Lehrer müssen gar nicht eingreifen?
Diese Aussage würde ich so nicht unterschreiben. Auch wenn das selbstverletzende Verhalten weniger wird: Studien zeigen, dass Jugendliche später oft andere Risikoverhaltensweisen weiterführen, etwa einen gesteigerten Alkohol- oder Drogenkonsum.
Wie kommen Jugendliche überhaupt auf die Idee, sich selbst zu verletzen?
Die Mehrzahl aller Jugendlichen sagt, dass es ihre eigene Idee war. Wir wissen aber auch, dass es Phänomene der sogenannten sozialen Ansteckung gibt – das Verhalten wird bei einer Person gesehen und dann ausprobiert. Da gibt es natürlich welche, die versuchen das mal und lassen es wieder, und es gibt welche, die entdecken, dass es für sie eine Funktionalität hat. Ein Phänomen, das uns wissenschaftlich immer mehr beschäftigt, ist, dass die soziale Ansteckung vermutlich auch über soziale Netzwerke funktioniert. Bei Instagram zum Beispiel kursiert zum Teil sehr deutliches Bildmaterial zur Selbstverletzung, das von den Jugendlichen viel kommentiert und ausgetauscht wird.
Gibt es Warnhinweise, auf die Eltern achten sollten?
Hellhörig werden sollten Eltern beim Auftreten von nicht erklärbaren Verletzungen, vor allem an den Extremitäten. Auch wenn der Jahreszeit unangemessene Kleidung getragen wird, um womöglich Wunden zu verstecken; zum Beispiel langärmelige Pullover im Sommer oder Stulpen. Und wenn Jugendliche nicht mehr in den Sportunterricht gehen wollen oder zum Schwimmen – weil das ja auch Orte sind, an denen man kurzärmelig unterwegs ist. Darüber hinaus selbstverständlich dann, wenn Klingen, blutige Handtücher oder auch Zeichnungen und Texte zur Selbstverletzung auftauchen.
Sie sagen, dass die Jugendlichen versuchen, ihre Arme zu verstecken. Die Annahme, dass Teenager, die sich selbst verletzen, die Wunden gerne zur Schau stellen, ist also falsch?
Genau – die Mehrzahl der Jugendlichen versteckt die Wunden.
In der Gesellschaft wird häufig dennoch davon ausgegangen, dass Jugendliche selbstverletzendes Verhalten als Mittel zu mehr Aufmerksamkeit nutzen. Verharmlosen wir das Thema?
Ich denke schon, dass hier ein Stigma vorliegt. Aber ich denke, dass dies gleichzeitig auch eine Abwehrhaltung ist: Man will sich mit dem Thema nicht auseinandersetzen. Was wir empirisch wissen, ist, dass die Hauptmotivation für selbstverletzendes Verhalten eben nicht die Aufmerksamkeitssuche ist, sondern dass es sehr effektiv dafür ist, Emotionen zu regulieren. Es ist natürlich ein dysfunktionaler Bewältigungsmechanismus, aber es hilft kurzfristig dabei, negative Emotionen zu beenden. Dafür haben wir auch aus der neurobiologischen Forschung sehr deutliche Signale. Längerfristig hilft es natürlich nicht: Längerfristig begibt man sich damit eher in einen Teufelskreislauf.