Esmyl Vasquez de Göhringer (li.) gibt Marta Verlezza Tipps Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Junge Mädchen, die sich eine Nähmaschine wünschen. Junge Mütter, die ihr Kind originell ausstaffieren wollen. Und Männer, die sich von Reisen Stoffe aus aller Welt mitbringen und damit in den Nähkurs kommen. Deutliche Hinweise auf einen Trend: Selber nähen und schneidern hat wieder Konjunktur

STUTTGART - Die Lage war top, das Angebot riesig, die Nachfrage hoch: Ein Geschäft wie Stoff-Wagner auf der Königstraße gehörte einmal ganz selbstverständlich zur Einzelhandelsvielfalt in der Stadt. Und ließ kaum die Wünsche all derer offen, die entweder selbst schneiderten oder ihre Garderoben-Ausstattung einer Schneiderin anvertrauten. Die Maßschneiderei stand in hohem Anehen, aus dem Atelier einer Vertreterin dieses Handwerks wie der Innungsmeisterin Gerda Cutler kam Haute Couture. Natürlich zu entsprechenden Preisen. Für eine immer kleiner werdende Klientel. Aber auch die Nähmaschine im Privathaushalt wurde nur noch hervorgeholt, um die Jeans und Rocksäume zu kürzen. Frau ging lieber shoppen, statt neben Beruf und Haushalt auch noch selber zu nähen. „Da hat sich niemand mehr was genäht“, erinnert sich auch Renate Zehner, ehemals Besitzerin einer Modeboutique. Meist habe sich das Ergebnis der häuslichen Fleißarbeit doch nicht mit Konfektions- oder Designermodellen messen können. Damit kam auch das Aus für große Stoffgeschäfte.

„Es geht heute nicht mehr darum, Geld zu sparen, wenn man selber schneidert“, versi-chert Claudia Riccio-Reichelt vom Stoff-markt in der Augustenstraße. Hält das Stoff-Sortiment der steigenden Nachfrage stand? „Keine Frage!“, behauptet die Händlerin und weist mit weit ausholender Armbewegung auf die meterlangen Regale voller Ballen hin: „Wir bieten nach dem Füllhornprinzip an.“ Als Herkunftsort wird oft die italienische Stadt Prato genannt, auch in Norddeutschland gebe es noch viele Webereien. Ein Schlaraffenland fürs Auge gewissermaßen: Alle Farben und Muster in Kaschmir, Wolle, Walk, Baumwolle, Seide, Satin und Spitze. Das regt die Fantasie an: Was könnte daraus entstehen? Das macht Lust, Kreativität und handwerkliche Fähigkeiten auszuprobieren.

Was ist topmodisch in diesem Frühjahr und Sommer? „Digitaldrucke“, sagt Claudia Riccio-Reichelt und entrollt ein paar Ballen als Beispiele: Mit einem Muster wie Zopf-strickerei, mit Vögeln, Hunden, Landschaf-ten, Blumen und abstraktem Kunterbunt. Da können doch keine Wünsche offen bleiben.

Aber was, wenn man sich in ein Designerteil verguckt hat und es nachschneidern will? Findet man dann auch akkurat diesen Stoff? „Nicht immer“, bekennt die Ge-schäftsfrau. „Denn die Konfektion und Fir-men wie René Lezard oder Riani lassen ihre eigenen Stoffe herstellen. Aber wir kaufen natürlich Konfektionsüberhänge ein.“ Eine Fundgrube, die allerdings immer seltener werde, weil die Firmen im Ausland produ-zieren und die nicht verwendeten Stoffe dann nicht nach Deutschland zurückkommen. „Wir hatten in den 70er und 80er Jah-ren nur Kollektionsüberhänge“, sagt Claudia Riccio-Reichelt. Gegründet hat das Ge-schäft ihr Vater, Gaetano Riccio aus Neapel. Zuerst als Import-und Exporthandel mit Waren aus Italien. Darunter natürlich auch Stoffe, Italien ist schließlich das gelobte Land der Weberei. Als Modeschülerinnen diese Adresse für Stoffe entdeckten und die Nachfrage immer größer wurde, speziali-sierte sich Riccio ganz aufs modische Textil. Bald war er als „Der Italiener“ bekannt, zu dem man nicht zum Pizza-Essen, sondern zum Stoffe kaufen ging, wie seine Tochter lachend erzählt. Die Ballen lagen nie wie Blei im Regal, aber der neue Boom sei spürbar und unverkennbar: „Es geht um den Spaß, kreativ zu sein, originell und individuell etwas zu schaffen, womit man auffällt.“ Und die neidvolle Bewunderung der Freundin erregt: „Was hast du denn Tolles an, wo gibt es das?“ „Nirgendwo, selbst gemacht, ätsch!“

Genau deswegen näht sich Güngar Güler das Abendkleid, das sie zur Hochzeit ihrer Tochter im April tragen will, selbst: Einen Traum aus transparentem schwarzen Glit-zerstoff mit Pailletten, unter dem altrosa Seide durchschimmert. Die 54-Jährige ist eine von fünf Damen, die sich an diesem Morgen zum Nähkurs im Geschäft Stoff-Ideen in der Sophienstraße eingefunden haben. Warum wollen sie nähen lernen?

„Ich probiere gern neue Kreativtechniken aus“, sagt Anja Heinkele. Die 29-Jährige ist von Beruf Grafikdesignerin und gibt sich mit dieser Spielwiese für ihre Ideen allein nicht zufrieden. Sie habe kürzlich sogar einen Goldschmiedekurs gemacht, erzählt sie. Im Nähkurs entstand eine pfiffige Müt-ze, jetzt ist ein kleiner Eisbär für das Baby einer Freundin dran. Andere wie Wiebke Hächler können eigentlich längst nähen, brauchen aber für irgendwelche kniffligen Techniken Anleitung. „Wie näht man eine Kuvert-Ecke an der Einfassung eines Tisch-tuches“, will die 73-jährige wissen. Esmyl Vasquez de Göhringer, die Kursleiterin, gibt Hilfestellung. Die Modedesignerin erklärt Frau Güler, dass sie beim Zuschneiden an die Oberweite denken und großzügig vorgehen soll, zeigt Bianca Schäfer, wie die Henkel der bunten Beuteltasche zu nähen sind, damit sie ordentlich aussehen und wechselt vom Deutschen ins Italienische, als sie Marta Verlezza hilft, die Rockfalten eines bunten Sommerkleides in der richtigen Breite zu legen.

Was ist wichtig beim Nähen? „Ein guter Schnitt“, sagt Esmyl Vasquez de Böhringer die in ihrer Heimat Venezuela und in Schweden Modedesign studiert hat. Und dass man die Nähmaschine zu bedienen wisse. Aber vor allem die Freude, kreativ zu sein und etwas selbst zu schaffen. „Früher haben wir Stoffe verkauft, jetzt verkaufen wir ein Hobby“, bringt es Eric Maat auf den Punkt, der in Nordhorn den ersten Stoff-Ideen-Laden gegründet hat und seither auf dem Weg in den Süden der Republik 14 Filialen eröffnete. Darunter auch die Stuttgarter Niederlassung, in der das steigende Interesse täglich registriert wird: Im Laden und im Kurs: „Außer in den Waldorfschulen und in manchen freien Schulen ist Handarbeit ja kein Unterrichtsfach mehr“, erklärt sich Filialleiterin Jutta Müller die Nachfrage von jungen Frauen an den Nähkursen. Galt ja mal als spießiges Relikt aus Großmutters Zeiten und überholt. „Jetzt wollen vor allem junge Mütter ihre Kinder originell ausstaffieren“, verrät Frau Müller. „Aber es kommen auch Männer in die Kurse. Einer ist dabei, der sich Stoffe aus der ganzen Welt von seinen Reisen mitbringt.“

„Näh-Café“ umschreibt Eric Maat die Kurse. Denn der gesellige Teil des Unternehmens, der Erfahrungsaustausch und nette Kontakte seien als wichtiges Motiv nicht zu unterschätzen.

Glücklich über das steigende Interesse an Stoffen und die Renaissance des handwerklichen Hobbys ist auch Andreas Berger in der Calwer Straße: „Wir sind darauf angewiesen“, sagt er schlicht. „Wenn es keine Stoffe mehr gäbe, könnten wir nichts verkaufen.“ Dieser existenzbedrohende Umstand ist zum Glück in den 96 Jahren nie wirklich eingetreten, seit Alfred Berger 1919 das immer noch von der Familie geführte Fachgeschäft für Schneider- und Kürschner-Zubehör gründete. Ein Juwel der Kurzwaren-Branche, wie es in der bundesdeutschen Einzelhandelsszene selten geworden ist, eine Fundgrube, in der wirklich alles, was man zur Schneiderei braucht, vorrätig ist und mit perfekter Beratung verkauft wird: Allein diese Vielfalt an Knöpfen! Sie machen das Selbstgeschneiderte zum Designerstück. Borten, Bänder, Applikationen, um ein Teil aufzupeppen, Verschlüsse aller Art, Futterstoffe, Nadeln, Nähgarne oder Gürtelschnallen. Immer auf der Suche nach dem Neuesten, führen Bergers auch Dekolleté-Tapes. Damit nichts rutscht und flutscht.

„Ich habe Kundinnen“, verrät Claudia Riccio-Reichelt, „die hatten noch nie eine Nähnadel in der Hand. „Weil sie alles kleben und tackern“. Kein Problem, bei Berger ist man auch darauf eingerichtet: Mit Reparaturflecken, selbstklebend und zum Aufbügeln. Mit dem heißen Eisen statt mit der heißen Nadel.