Die gesamte Altstadt von Amatrice ist bis heute Sperrgebiet. Foto: Almut Siefert

Vor einem halben Jahr hat in Mittelitalien die Erde gebebt – 299 Menschen kamen ums Leben. Seitdem bebt es in Amatrice und der Region immer wieder. Die Einsatzkräfte kommen nicht vorwärts, sie müsse immer wieder von vorne beginnen.

Amatrice - Das Schild mit dem roten Schriftzug „Simply-Market“ hängt noch an dem Haus am Anfang des Corso Umberto I. Nur wenige Stunden nach dem schweren Erdbeben vom 24. August, das fast die gesamte Altstadt von Amatrice zerstörte, brachten Helfer Wasser, Brot, Chips und Kekse aus dem kleinen Supermarkt und verteilten sie an diejenigen, die sich rechtzeitig aus ihre Häusern gerettet hatten und nun verloren auf der Piazza Antonio Serva standen und stumm darauf warteten, ein Lebenszeichen von ihren Angehörigen zu erhalten.

Den Supermarkt gibt es heute nicht mehr. Das Haus steht nur noch zur Hälfte, stützt sich in einem 45-Grad-Winkel auf seine eigenen Trümmer. Das zweite schwere Erdbeben des vergangenen Jahres, das am 30. Oktober Mittelitalien erschütterte und auch die Stadt Norcia quasi unbewohnbar machte, hat nahezu alle der wenigen noch stehenden Häuser Amatrices in die Knie gezwungen. Allein der Campanile Centrale ragt ein paar Meter weiter aus der Zona rossa, der Sperrzone, wie ein Mahnmal aus den Trümmern heraus. Die Zeiger der Uhr stehen noch immer auf 3.36 Uhr. Die Minute, in der die Erde vor einem halben Jahr Amatrice und das Leben seiner Einwohner zerstörte.

In die Sperrzone von Amatrice dürfen noch immer nur die Einsatzkräfte

Die einstige Altstadt dürfen bis heute nur die Einsatzkräfte betreten. „Ich war seit fast einem halben Jahr nicht mehr dort“, sagt Sergio Pirozzi, der Bürgermeister von Amatrice, und hält kurz inne, bevor er weitererzählt. Am 24. August sei er dort gewesen. Dann noch einmal ein paar Tage später, als der Verteidigungsminister die Lage vor Ort besichtigt hatte. „Da wurde mir schlecht“, sagt er und schluckt. Seitdem habe er die Sperrzone nicht mehr betreten. „Ich habe dort Freunde verloren.“

299 Menschen sind bei dem Beben am 24. August ums Leben gekommen, die meisten von ihnen in Amatrice. Bis heute wackelt die Erde in den Regionen Latium, Marken, Abruzzen und Umbrien. Die letzten vier schweren Beben waren am 18. Januar. Italien hat vor wenigen Tagen eine Schätzung des Gesamtschadens veröffentlicht: 23,5 Milliarden Euro.

Eine einzige Bar gibt es in Amatrice

Cristina steht hinter dem Tresen der einzigen Bar in Amatrice. „Nach sechs Monaten ist es hier schlimmer als vorher“, sagt sie. „Sie haben ja noch nicht mal angefangen, den Schutt wegzuräumen. Es ist ein Desaster.“ Die 40-Jährige ist eine von rund 600 Einwohnern, die Amatrice nach dem Beben nicht verlassen haben. 3000 Menschen waren obdachlos geworden. Die meisten von ihnen wohnen noch heute in Zwischenlösungen, in San Benedetto oder L’Aquila oder in Hotels an der Adriaküste. Geblieben sind vor allem Bauern, die in Provisorien bei ihren Tieren wohnen. Und Cristina. Sie wohnt in einem der Häuser, die außerhalb der Sperrzone stehen und von den Behörden als sicher deklariert wurden.

Die Bar hat Cristinas Chef Fabio Magnifici Ende September nur wenige Meter vor dem Eingang in die Zona rossa eröffnet. Sie sollte ein Treffpunkt werden, ein Bezugspunkt für diejenigen, die geblieben waren. Doch Cristina macht ihren Kaffee vor allem für die rund 300 Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr, Zivilschutz und Militär. Einwohner trifft man dort kaum.

Die Hauptaufgabe sei die Kontrolle der noch stehenden Häuser, sagt Fabrizio Cola, der Leiter des Einsatzzentrums für Amatrice und Accumoli. Doch die gleicht einer Sisyphusarbeit. „Wir fangen nur nach jedem schweren Beben immer wieder von vorne an.“ Dazu kam der viele Schnee, der die Region wochenlang lahmlegte – und die Einsatzkräfte forderte. Viele der Männer, die in Amatrice tätig sind, wurden an die Unglücksstelle am Gran Sasso beordert, wo eine Lawine am 18. Januar das Hotel Rigopiano unter sich begraben und 29 Menschen das Leben gekostet hatte.

32 Familien sollen bald in provisorische Häuser ziehen

Das erklärt auch, warum noch niemand in den einstöckigen Fertighäusern wohnt, die am Rande der Altstadt errichtet wurden. 32 Familien sollen hier bald leben. „Manche wollten auch schon einziehen“, erzählt Pirozzi. „Ich habe Nein gesagt. Sie ziehen erst ein, wenn alles fertig ist.“ Das Militär ist dabei, das Gelände anzulegen.

Gepflasterte Straßen soll es geben, Pflanzen sollen die Wege säumen. Die große Herausforderung sei nämlich nicht der materielle Schaden – „sondern der psychische“. Würden die Menschen jetzt einziehen, würden sie sich weiter wie die Opfer des Erdbebens fühlen, fürchtet er. Das Schlimmste an der derzeitigen Situation sei der Schmutz, so der Bürgermeister. „Die Menschen gewöhnen sich an den Dreck, an die Zerstörung – und werden dadurch zu Tieren.“ Deshalb habe er die Straßen freiräumen lassen. „Liegt überall Dreck rum, fängt man irgendwann an, seinen Müll dazuzuwerfen.“

Pirozzi versucht alles, die Moral zu heben. „Ja, wir müssen die Ärmel jetzt hochkrempeln. Aber warum sollten wir es nicht schaffen?“