Hanna Plaß (Polly Peachum) und Johann Jürgens (Macheath) Foto: Stöß

Hallodris mit Ganzkörpertattoos und herrlich singende Sirenen. Weit und breit keine Botschaft, aber einige Kritik am Hier und Heute, so überzeugte „Die Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill hatte am Donnerstag im Schauspielhaus Stuttgart Premiere.

Hallodris mit Ganzkörpertattoos und herrlich singende Sirenen. Weit und breit keine Botschaft, aber einige Kritik am Hier und Heute, so überzeugte „Die Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill hatte am Donnerstag im Schauspielhaus Stuttgart Premiere.

Stuttgart - Ein Sack voll Steine poltert vom Bühnenhimmel auf einen Plattenspieler, es lief die Moritat von Mackie Messer. Eine Aufnahme mit nostalgischem Knistern, gesungen von Bertolt Brecht höchstselbst. Die Brecht-Tradition, vor allem bei der „Dreigroschenoper“, sagt der Regie-Gag von Sebastian Baumgarten, ist enorm. Schier übermächtig. Und so sind die Steine, die da jemandem von der Regieseele fallen, ein schönes Bild für die Inszenierung. Erleichterung wegen abgeworfenen Ballasts und auch ein bisschen Trotz in all dem Krawumm.

Vieles ist seit der Uraufführung 1928 angemerkt worden zu der Art, wie das Erfolgsstück zu spielen sei, ob und wie die Gesellschaft durch Kunst verändert, verbessert werden könne. Auch der 1969 in Ostberlin geborene Sebastian Baumgarten, der an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Opernregie studiert hat, ist ein theorieinteressierter Regisseur. Wie in seiner ersten Stuttgarter Inszenierung (Bulgakows „Die Flucht“) 2009 zitiert er an diesem Donnerstag im Stuttgarter Schauspielhaus den italienischen Philosophen Giorgio Agamben.

In bestem popkulturellem Mischmasch wird dessen Gesellschaftsbefund zu Beginn von drei Schauspielern in „Planet der Affen“-Filmkostümen dargebracht. Die postmodernen Kleinbürger von heute, wir alle also, dozieren die Herren unter ihren Super-Affenkopf-Masken, können mit sozialen Klassen, mit Sinn und Bedeutung nichts anfangen, Unterscheidungen wie Wahrheit und Lüge – passé.

So viele Heilsversprechen wurden schon gebrochen in Ost oder West. Also, es reicht. Also werfen die Schauspieler sowohl das Manifest der Kommunistischen Partei wie auch das Bürgerliche Gesetzbuch, die Bibel und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte achselzuckend in die Tonne.

Baumgarten präsentiert eine kaltschnäuzige Abrechnung mit Brecht und mit den Leuten. Verweigert ein Empörungstheater, das doch nur die schlechten Zustände festigt, bei dem die Zuschauer selbstgefällig über sich lachen und heimgehen und weiter wursteln wie bisher.

Keine großen Gesten also, aber kluge Anspielungen an Aufführungspraxis, Verfremdungseffekt und politisch bedenkliche Entwicklungen. Kleine, funkelnd spaßige, traurige Szenen. Viel Fasching mit Kraweel und Kostümquatsch. Und Faschismus als Plakatgespenst. Weil die Leute mit Bibelsprüchen nicht zu Mildtätigkeit zu bewegen sind, pappt Bettlerkönig Peachum (Rainer Philippi) Sprüche an die Wand wie „Gas geben“ – eine Anspielung an Front-National-Mann Jean-Marie Le Pen und dessen jüngste rassistische und antisemitische Sprüche.

Kein raumgreifendes Bühnenspektakel auch wie bei der letzten Stuttgarter „Dreigroschenoper“ vor 18 Jahren (Regie: Crescentia Dünßer/Otto Kukla). Stattdessen antike Säulen auf Thilo Reuthers Bühne. Und Szenenansagen als in die Handhineingemalte Spickzettel auf Videoleinwand projiziert: auch so kann man den Schulstoff gewordenen, oft museal behandelten Klassiker Brecht kommentieren.

Bei allem Fatalismus – was bleibt, ist die Lust, eine Geschichte zu erzählen, und sei es eine Schmonzette mit Vorstadtcasanova, mit keifenden Frauen, viel Liebe und noch mehr Verrat. Tristes, kaltes Licht beleuchtet die in ewiger Nacht liegende provisorisch wirkende Bühne. Dahinter spielen ganz unbrechtisch versteckt die hervorragenden Musiker unter Leitung von Max Renne Kurt Weills Musik. Sie begleiten die wie im Zeichentrickfilm künstlich verlangsamten Bewegungen der Figuren auf den Punkt genau.

Figuren, die keineswegs so wirken wie es Brechts (im Programmheft abgedruckten) Wünschen entspräche. Statt verkappter Bürger verludertes Personal mit strähnigem Haar, grauen Gesichtern (Rainer Philippi als Peachum, Horst Kotterba als Polizeichef Brown). Macheath (Johann Jürgens) und seine Gaunerkollegen tragen zu Ganzkörpertattoos Westen, Gamaschen und Shirts aus Material der Kunststofftaschen, die man in kleinen türkischen Geschäften kaufen kann (Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes). Durchaus keine Leute, mit denen man sich unbedingt gern auf einen „Kaffä“ treffen wollte, wie der kulleräugig nett wirkende Johann Jürgens berlinernd sagen würde.

Es überwiegt zunächst der Trash. Muffige Atmosphäre, billige Opernposen. Der Mensch im kapitalistischen Hamsterrad, das ist ein verbrauchtes Bild, schaler Klamauk auch bei der Hochzeit von Polly und Macheath im Pferdestall. Doch dann: Schauspielglück. Hanna Plaß singt mit Inbrunst und gebotener Ironie (Szenenapplaus nach jedem Song). Ihre Polly ist ein überdrehtes Püppchen und zeigt erstaunliches Durchsetzungsvermögen, wenn Mackie ihr die Geschäfte übergibt und sie aufmüpfige Gangster zur Minna macht.

Da Baumgarten keine Botschaften mitzuteilen hat, nutzen die sehr guten Schauspieler das Terrain für spielfreudige Szenen. Etwa Hanna Plaß und die zauberhaft flattrige Nathalie Thiede als Polizeitochter Lucy (mit ihren schmalen Augen und ihrer Begabung für osteuropäische Akzente empfiehlt sie sich als Madame Chauchat im „Zauberberg“ in der nächsten Saison). Sie liefern sich wimpernklimpernd, Hände in die Hüfte stützend ein komisches Rededuell darüber, wer mehr Anrecht auf Macheath hat.

Überhaupt ist dies ein Abend der Frauen. Susanne Böwe, mit herrlich lakonischem Witz, interpretiert und singt genießerisch jede Silbe. Caroline Junghanns als Spelunken-Jenny mit gefährlich dunklem Ton: Dixhaft bemaltes Gesicht und onduliertes Rothaar. Eine Sirene mit Weltschmerz. Anrührend zerknirscht, wenn sie Macheath verrät. Mit Schmachtblick, wenn sie nach dessen Begnadigung heimlich sein Händchen hält, während die geschäftstüchtige Polly lieber selig Macheaths Geldkoffer an sich drückt.

Ein Happy End, das in seiner fabelhaft vorgeführten Verlogenheit dann doch bedrückt zurücklässt. Nicht das Schlechteste, was man über einen Brecht-Abend sagen kann.

Weitere Aufführungen: 16., 23., 30. Juni. 6., 9., 11., 12., 19. Juli. Karten: 07 11 / 20 20 90.