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Nach Eskalation gibt es im Polizeipräsidium eine zweite Leitstelle nur für S-21-Einsätze.

Stuttgart - Am 30. September 2010 zeigt der Streit um S21 sein hässliches Gesicht. Die Lage eskaliert, die Polizei erlebt ein Desaster. Die Narben sind noch nicht verheilt. Die Polizei hat in diesem Konflikt ihre Unschuld verloren und versucht daraus Lehren zu ziehen.

Es sind Situationen wie diese, und dann flackert es wieder auf. Ein Polizist in Zivil, der sich in Protestmenge mischt, um die Lage auszukundschaften - er ist das Feindbild, auch ein Jahr danach. Erst vergangene Woche ist wieder einer zwischen die Unversöhnlichen geraten. "Zivilbulle", "Spitzel", "V-Mann", "Agent provocateur" - wer erkannt und angegangen wird, steht allein gegen alle. "Da verfestigt sich eine radikale kleine Minderheit, obwohl inzwischen eine große Mehrheit der Stuttgart-21-Kritiker unsere Rolle erkennt", sagt Polizeipräsident Thomas Züfle. Ein gefährlicher Zündstoff. Bei der Polizei wird zurzeit darüber diskutiert, wie man damit umgehen soll, wie man die eigenen Leute schützen kann.

Der Fluch des 30. September. Der Tag im Jahr 2010, an dem die Polizei in der zuvor friedlichen Auseinandersetzung um S 21 ihre Unschuld verlor. Als im Schlossgarten eine 475 Meter lange Polizeiabsperrung aufgebaut werden sollte, damit die Bahn für das Bahnprojekt 25 Bäume fällen konnte. An dem die Taktik der Polizei so gehörig danebenging, dass die Beamten Schlagstock, Pfefferspray und Wasserwerfern einsetzten. Ein hoher Preis: mindestens 184 Verletzte, mindestens vier davon schwer.

Ein verpatzter Start

Dabei schien alles perfekt geplant zu sein. Der Polizeieinsatzes sollte - überraschend - um 10 Uhr gestartet werden, nachdem der ursprünglich für Nachmittag angesetzte Termin durchgesickert war. Eine Schülerdemo mit 800 Teilnehmern zur gleichen Zeit in der Nähe galt als nicht problematisch. Der Plan: Die Parkfläche hinter dem Zentralen Omnibusbahnhof abriegeln - dann gegen anstürmende Protestierer verteidigen. Doch die Logistik einer Polizei, die unter Geheimhaltung Hunderte von Einsatzkräften aus Bayern, Hessen oder Rheinland-Pfalz zur Verstärkung heranholen muss, hält nicht Schritt mit der Mobilität von Demonstranten, die über Handy-SMS und Twitter alarmiert werden.

Als die Polizei endlich loslegen wollte, waren die Demonstranten längst da - und mit 1000 Leuten in der Überzahl. Der Alarm an die S-21-Gegner per SMS erfolgte um 10.25 Uhr, der erste Marschblock der Einsatzhundertschaft aus Böblingen traf erst um 10.40 Uhr aus südlicher Richtung im Park ein. Die Verstärkung aus Bayern war da noch nicht auf der Autobahn. Sie stieß erst gegen 11 Uhr zu den Kollegen im Schlossgarten. Zu diesem Zeitpunkt war der Konvoi aus Gitterwagen und Wasserwerfern, der aus nördlicher Richtung den Park durchqueren sollte, längst zwischen Café am See und Biergarten blockiert.

Ein verpatzter Start. Damit hatte der damalige Polizeipräsident Siegfried Stumpf nicht gerechnet - noch weniger damit, dass es massiven Widerstand geben würde. Dass man Aufforderungen der Polizei nicht Folge leisten, dass um jeden Meter gekämpft würde. Dass sich Demonstranten nicht von Pfefferspray oder Wasserwerfern vertreiben ließen, sondern sich - oft blindlings - 4 bis 16 bar Wasserdruck entgegenstemmen würden. Das Bild des heute weitgehend erblindeten Dietrich Wagner wurde zum Symbol des "Schwarzen Donnerstag".

Ein Abbruch kam nicht infrage

Dass in Stuttgart Anordnungen und mehrfachen Lautsprecherdurchsagen keine Folge geleistet wird, dass Polizisten an den Absperrungen gezielt körperlich angegangen werden, das passte nicht in Stumpfs Weltbild. Doch ein Abbruch kam für ihn nicht infrage. Dabei war Deeskalation blankem Hass gewichen. Die Polizeitruppen im Park - weit weg vom eigentlichen Ziel am Zentralen Omnibusbahnhof - drohten überrannt zu werden. Um 11.53 Uhr, sieben Minuten vor Beginn einer Pressekonferenz im Landtag, gab Stumpf seinen Abschnittsleitern grünes Licht, den "unmittelbaren" Zwang anzuwenden. Um 12.18 Uhr wurden erstmals Schlagstock und Pfefferspray gezückt, um 12.48 Uhr trat der erste Wasserwerfer in Aktion. Meter um Meter kämpfte sich die Polizei mit ihren Gittern voran. Es dauerte bis um 16.35 Uhr, dann war die Polizeilinie geschlossen. Die ersten Bäume fielen erst in der Nacht, am 1. Oktober um 0.58 Uhr.

Bis zuletzt blieb Polizeipräsident Stumpf dabei: Die Planung sei richtig gewesen, zugegebenermaßen aber mit Mängeln in der Ausführung. An keinem anderen Tag, zu keiner anderen Uhrzeit, mit keiner anderen Taktik hätte gewährleistet werden können, dass der Polizei nicht massiver Widerstand entgegenschlägt. Doch am Ende, als nach der Landtagswahl die alte Regierung abgewählt wurde, stand Stumpf allein gegen alle. Ende April ließ sich der 60-Jährige "aus gesundheitlichen Gründen" vorzeitig in den Ruhestand versetzen. Und im Juli legt eine Expertenkommission einen Abschlussbericht mit Empfehlungen vor. Fazit: Es gehe besser.

Thomas Züfle, der ohne den 30. September heute nicht Stuttgarter Polizeipräsident wäre, hat die Nagelprobe des Expertenpapiers noch nicht bestehen müssen. Die wird kommen, wenn der Südflügel des Hauptbahnhofs oder Hunderte Bäume im Schlossgarten fallen sollen. "Die Verhältnismäßigkeit der Mittel", sagt Züfle, "ist die oberste Richtlinie."

Man muss mehr miteinander reden

Das klingt gut, das hätte sicher auch Vorgänger Stumpf unterschrieben. Doch die Polizei hat offenbar ihre Hausaufgaben gemacht. Die Stuttgarter Polizei hat inzwischen zwei Führungsstäbe im Haus - einen für den Alltag und einen für Großinsätze wie bei Stuttgart21. Knapp 20 Spezialisten sind dafür eigens abgeordnet worden. Sie sollen die Aktionen in allen Variationen planen und auch lenken. Der Polizei sollen damit mehr Alternativen zur Verfügung stehen - notfalls bis zum Abbruch.

Dadurch soll sich auch eine andere Panne nicht wiederholen: Die Polizeiführung hatte vergessen, den Rettungsdienst zu alarmieren. Die Rettungsleitstelle hatte erst um 12.56 Uhr zufällig von eigenen Leuten von der Eskalation erfahren - und aus dem Stand heraus ein Notlazarett im Park einrichten müssen. "Das war kein Mangel innerhalb der Strukturen", sagt DRK-Sprecher Udo Bangerter, "das war einfach ein menschlicher Fehler." Der Sachverhalt sei geklärt, "eine Ausnahme". Und es sei sichergestellt, dass so etwas in der Hektik nicht einfach vergessen werden könne.

Man muss mehr miteinander reden. Das gilt nach Ansicht von Polizeipräsident Züfle für Polizei und Stuttgart-21-Aktivisten gleichermaßen. Das sogenannte Anti-Konflikt-Team, damals neun Leute, ist inzwischen auf 15 Ansprechpartner ausgebaut worden. Laut Züfle soll es künftig auch keine Geheimaktionen geben. Zu viel Geheimhaltung hatte nicht zuletzt auch am 30.September 2010 die eigenen Kräfte verwirrt. "Es ist wichtiger, transparent und verlässlich zu sein", sagt Züfle, "Informationen sickern ja doch durch."

Zur Transparenz gehört für Züfle auch, keinen Hehl daraus zu machen, dass Beamte in Zivil unter den Demonstranten sind. "Das sind aber keine verdeckten Ermittler", sagt er. Die sollen beobachten, um mögliche heikle Lagen frühzeitig zu erkennen. Immerhin: Als letzte Woche ein Kundschafter von der Menge enttarnt wurde, mahnte ein S21-Aktivist die Demonstranten per Megafon: "Ihr könnt den Mann verfolgen, aber lasst es bitte nicht zu Rempeleien kommen."