Im Herbst ist Erntezeit auf den Streuobstwiesen. Foto: Bettina Bernhard

Wo pralle Äpfel und duftende Birnen gedeihen, wo Most und Hollersirup fließen – da muss das Paradies sein. Ein Besuch bei den Hütern des Schwäbischen Streuobstparadieses ist so lecker wie lehrreich.

Bad Ditzenbach - Am Albtrauf, unterhalb der markanten steilen Felsabbrüche, färbt sich allmählich das Laub. Noch kann es aber nicht konkurrieren mit den Farben der Früchte, dem Birnengrün, dem Apfelrot, dem Zwetschgenblau und dem Quittengelb. Als hätte ein Künstler den Pinsel tief in die Farbpalette getaucht. Hier in einer der größten Streuobstlandschaften Europas stehen fast zwei Millionen Obstbäume auf 34 000 Hektar. Zwischen den zumeist alten Obstbäumen mit ihren knorrigen Stämmen sind so schräge Vögel wie der Halsband-Schnäpper, der Rotkopfwürger oder der Wendehals zu Hause und außerdem mehr als 130 Mostereien und 1000 Brennereien. Maria Schropp führt die Geschäfte im Streuobstparadies. Als Kopf des Vereins Schwäbisches Streuobstparadies vermittelt sie – zwischen Gesetzgebern, Verbrauchern, Bewohnern und Bewahrern dieser Region.

August Kottman ist so einer. Beim Seniorchef des Gosbacher Gasthofs Hirsch landen die Früchte des Paradieses im Kochtopf, im Backofen und auf dem Teller. Das klingt dann so: Zwetschgensäckchen mit Speck vom Landschwein auf Kürbis-Alblinsen oder marinierter Ziegenfrischkäse mit Dörrbirnen-Buchweizen oder Sauerkraut-Apfelsuppe mit Honig-Zander. Dahinter stecken nicht nur eigene Rezepte, sondern eine ganze Philosophie. Man schützt, was man schätzt. „Der Mensch ist verarmt in seiner Esskultur. Ich sehe ihn kaufen, aufreißen und essen, im Laufen, mit Handy am Ohr“, sagt Kottman kopfschüttelnd.

Er kennt jeden Baum entlang des Bad Ditzenbacher Obstlehrpfads, weiß das Alter der Nägelesbirne, die Herkunft des wilden Eierapfels, die Geschichte des Kardinal-Bea-Apfels. Dazu gibt’s einen Schnell-Schnittkurs – „Sonne für jeden Apfel, drei Leitäste, tragendes und stehendes Holz und ein Dreiklang aus Leistung, Ertrag und Stabilität“ – und viel Wissenswertes. „Die Streuobstwiese muss gepflegt werden, sonst erobert sich der Wald die Wiese zurück. Ein Apfelbaum legt sich nicht an mit Bäumen und Gebüsch. Er verkümmert.“

Das Auflesen der Früchte ist ein mühseliges Geschäft

Ins Philosophieren kommt man fast automatisch auch bei Jörg Geiger. Der Land- und Gastwirt aus Schlat keltert und destilliert in seiner Manufaktur am liebsten alte Schätze, wie das Stuttgarter Geishirtle, die Gewürzluike oder die Champagnerbratbirne. Letztere verhalf ihm zu ungewollter Berühmtheit, als er sich Ende der 1990er mit seinem Birnenchampagner vor Gericht wiederfand, weil die Franzosen auf das Markenrecht am Champagner pochten. Nach langem Rechtsstreit hatte Geiger verloren, sein „Schaumwein aus der Obstsorte Champagner-Bratbirne“ jedoch war in aller Munde und die „räse“ alte Birne mit ihren wunderbaren inneren Werten vor dem Aussterben gerettet. Heute macht der Champagnerrebell den größten Umsatz mit Prisecci, alkoholfreien Apfel- und Birnenschaumweinen. Verfeinert mit Holunder- oder Johannisbeeren, Mädesüß oder Wildrose, werden daraus feine Tröpfchen. „Ich versuche, Naturschutz und wirtschaftliches Arbeiten unter einen Hut zu bringen“, sagt Geiger beim Spaziergang durch seine Streuobstwiesen. Er kennt seine Schätze, lässt hier abbeißen, dort riechen und verblüfft mit Zahlen wie „dieser Birnbaum ist 150 Jahre alt und bringt rund 1000 Kilo Ertrag“.

Streuobst lesen strengt an. Schon nach kurzer Zeit schmerzt der Rücken vom Bücken, die feuchte Wiese durchnässt die Schuhe und die gefüllten Körbe zerren an Armen und Schultern. Karin Stolz lacht. Die Chefin der Boller Fruchtsäfte macht gerne Anschauungsunterricht mit ihren Gästen. Sie presst die Früchte des Paradieses für den Alltag. Die Kelterei in dritter Generation entstand aus der Landwirtschaft, doch „mit drei Sorten Saft besteht man heute nicht mehr auf dem Markt“, weiß Karin Stolz. Also findet man in ihrem Sortiment neben Apfel- und Birnensäften Spezialmischungen, Obstweine, Brände und Biosirup.

Mit lautem Rumpeln landen die Früchte in einer Betonwanne, werden mit Regenwasser gespült und über einen Schwemmkanal ins Innere transportiert, dort bekommen sie noch zwei Frischwasserwaschungen und werden von Hand verlesen. Zerkleinert, gepresst, gefiltert, erhitzt – fertig ist der Saft. Das Obst stammt aus einem Umkreis von 30 Kilometern, und zwar von Kleinstmengen in Opas Leiterwagen bis zum Container.

Einst sorgte das Obst im Winter für vitaminreiche Nahrung

Im Obstjahr 2014 sank der Marktpreis für Streuobst auf 2,50 Euro pro 100 Kilo. „Das reicht nicht mal fürs Hinfahren“, weiß Maria Schropp um eines der Hauptprobleme im Paradies. Ein zweites ist, dass „weniger als die Hälfte der 800 Millionen Liter Apfelsaft, die Deutschland jährlich trinkt, aus deutschen Äpfeln hergestellt wird“. Die Retter des Streuobstes versuchen mit fairen Preisen für sortenreines oder Bio-zertifiziertes Streuobst einen kleinen Anreiz zu schaffen. Aber mit jedem Generationswechsel bleibt mehr Obst auf den ererbten Wiesen liegen.

Dabei rettete das Obst einst Leben. Nach diversen Hungersnöten verpflichteten die Landesfürsten ihre Bürger zum Pflanzen von Obstbäumen bei Hochzeit oder Geburt. Wer dagegen verstieß, wurde bestraft. Das Obst sorgte – eingelagert, eingemacht, gedörrt oder verflüssigt – im Winter für vitaminreiche Nahrung. Die hatten die Gründer des heutigen Streuobstparadieses bitter nötig, denn ihre Lebensbedingungen waren alles andere als paradiesisch, wie das Beurener Freilichtmuseum anschaulich zeigt. Auch seine Macher schützen den Obst-Schatz – mit Baumschnittkurs, Saftpressen, Obstausstellung und Mostfest.