Andres Veiel hat sich mit der Schule versöhnt. Foto: privat

In einer Serie erzählen Menschen, die bekannt geworden sind, von ihrer Schulzeit in einem der Stadtbezirke unterm Fernsehturm. Diesmal: der Regisseur Andres Veiel, er hat das Wilhelms-Gymnasium in Degerloch besucht.

Degerloch - In die Schule muss jeder. Auch ein späterer Theaterregisseur. Andres Veiel, der das Wilhelms-Gymnasium in Degerloch besucht hat, beschreibt seine Schulzeit als nicht gerade leicht. Das hatte vor allem politische Gründe.

Meine Schulen:
Karlsschule Möhringen, Wilhelms-Gymnasium Degerloch (1970-1979)
Spitzname in der Schulzeit:
Veilchen, Hackebeilchen
Kernfächer:
Deutsch, Mathe, Englisch, Französisch
Hassfach:
Ich bin von Natur aus neugierig, deswegen hatte ich kein Hassfach. Es gab nur Lehrer, die ich abgelehnt habe.
Mitgliedschaft in AGs:
Ich war bei der Gegen-Schülerzeitung.
Lieblingslehrer:
Herr Baldauf (Deutsch)
Ein Fach, das der Schule gefehlt hat:
Ich hätte gerne eine Theater-AG, Philosophie und einen anderen Begriff von Geschichte gehabt. Bei uns war Geschichte: links Jahreszahlen und rechts einen Satz, der dazu passte. Es war ein stupides Auswendiglernen, ein Reproduzieren von Modulen. Wir hatten keine Projekte, kein Debatting.
Meine Rolle in der Klasse:
Der eigentlich sanfte Provokateur. Ich war nie jemand, der jemandem eins auf die Nase gegeben hat. Ich war auch in der SMV und Klassensprecher. Meine Rolle war, wo immer es ging, sich zu organisieren und Protest einzulegen. Ich war gleichzeitig der, der damals schon viel fotografiert hat. Ich habe beobachtet, dokumentiert und versucht eine Distanz herzustellen.
Meine perfekte Lunchbox:
Ich fand’s viel cooler zum Bäcker zu gehen und ein Laugenbrötchen zu kaufen oder eine Schnecke als das Pausenbrot der Mutter, in dieser grausamen gelben Plastikbox, eingewickelt in Butterbrotpapier, in schöne Schnittchen unterteilt. Das war peinlich, wir wollten nicht mehr mit den Boxen von zu Hause gefüttert werden, sondern es war cool, das selbsterworbene Brötchen im Rauchereck zu verzehren, obwohl ich nie geraucht habe.
Mein Lieblingsort in der großen Pause:
Wir hatten unsere Cliquen-Stammplätze, es war immer klar, wo wer zu finden ist. Ich war immer auf dem sonnigem Südhof, und oft waren Tilo und ich im SMV-Bereich, da hatten wir ein Extraräumchen für unsere Gegen-Schülerzeitung. Es war dieses Sich-in-einer-Sonderrolle-einrichten: Wir hängen nicht mehr ab, sondern wir arbeiten, also wichtig.
Mein Schwarm in der Schulzeit:
Nicht in der Schule, aber außerhalb gab es den natürlich. Das fing so mit 15, 16 an, wobei ich sagen muss: Ich war Spätzünder, das kam bei mir alles etwas zeitverzögert. Aber klar, unter den Jungs gab es dann den entsprechenden Erfolgsdruck: Wer geht wie weit? Das war dann alles auch sehr wettbewerblich. Wir hatten dann Jungs, die im Schullandheim schon mal über Nacht wegblieben, das war für uns kilometerweit weg. Das war ganz klar ein ganz wichtiges Statussymbol. Gar nicht so rauchen, sondern wer geht mit Mädchen wie weit und kann das auch demonstrieren, das war schon extrem.
Das Highlight meiner Schulkarriere:
Das waren einzelne Klassenkameraden. Ich hatte viele gute Freunde. Dann eben dieses Schülerzeitungsprojekt, was mir viel Spaß gemacht hat. Eben zu provozieren, auch die Ironie, die Persiflage. Auch diese Aktion, die nächtliche Linie zu ziehen. Wir hatten unsere Position, diese Antihaltung, das waren auch Kraftwerke, in denen wir uns gespürt haben. Da haben wir gemerkt: Wir müssen uns nicht abfinden, wir haben Möglichkeiten, uns zu wehren.
Mein genialster Streich:
Wir hatten einen Artikel in der Gegen-Schülerzeitung rausgebracht, da wir bei den RAF-Prozessen waren. Wir wurden zum Direktor zitiert, da er meinte, das hätte ja nur in der Schulzeit stattfinden können. Ich habe die Faust in der Tasche geballt, nicht, weil er als Direktor nicht das Recht hat, uns zu ermahnen. Das war eine Inszenierung von Macht und ein Versuch, uns vorzuführen. Wir haben dann nachts – da wir auch eingeschränkt werden sollten mit der Schülerzeitung – eine rote Linie um die Schule gezogen, wie in Berlin früher bei der Mauer. „Hier endet der demokratische Teil Deutschlands“, haben wir geschrieben. Das ist nie aufgeflogen, es ist jetzt wahrscheinlich auch verjährt. Es gab eben verhärtete Fronten, und wir haben mit diesem zynischen Humor bis zum Ende versucht, uns zur Wehr zu setzen.
Das Nützlichste und das Unnützeste, was ich gelernt habe:
Das Unnützeste war das stupide Auswendiglernen, ich habe eben nicht gelernt, zu lernen. Mit Ausnahme von Deutsch habe ich keine Neugierde, keine Begeisterungsfähigkeit für etwas und keine eigene Recherchearbeit gelernt. Das Wissenaneignen war mit keiner Lernhaltung verbunden, warum etwas spannend sein könnte. Es wurden keine Brücken zu etwas Konkretem geschlagen. Nützlich war alles, das beseelt war, zum Beispiel sind wir von uns aus ins Theater gegangen oder haben uns viel mit Kunst beschäftigt. Wir haben selber etwas gesucht, das uns begeistert hat. Das heißt das wirklich Gute war Eigeninitiative.
Das wollte ich werden, wenn ich groß bin:
Ich wollte eigentlich Arzt werden, noch früher war es Lokomotivführer und Helikopterpilot. Dann mit 15, 16 hatte ich gedacht, Psychoanalyse wäre eigentlich interessant. Ich dachte, das wäre ein aufregender Weg, Menschen zu begreifen, vielleicht auch zu verunsichern. Ich wollte dann irgendwann ein Messingschild anschrauben: „Andres Veiel – alle Kassen“.
Ich erinnere mich besonders an...
...Schnüffelpartys, wo wir mit den Mädchen zusammengebracht wurden. Das war alles sehr kühn, weil die für uns Wesen vom anderen Stern waren! Das war in der Tanzschule, wo sich zwei Klassen beschnüffelt haben, um die Entscheidung zu treffen, ob wir zusammen auch Tanzstunden nehmen, einschließlich Abschlussball.
Jemand, der mir aus der Schulzeit besonders in Erinnerung geblieben ist:
Ich hatte einen fantastischen Deutschlehrer, Herrn Baldauf, der etwas hatte, das Lehrer immer haben sollten, aber leider nur er mir vermittelt hat: Begeisterungsfähigkeit! Er hat mich zum Lesen gebracht. Ich habe damals auch Peter Handke gelesen, der dabei war, diesen provozierenden Stachel wieder etwas einzuziehen. „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, „Das Gewicht der Welt“ , diese Bücher habe ich verschlungen. Es war ein Hinführen zum Lesen und das Vermitteln, dass Lesen etwas ist, das uns jenseits der Pflicht etwas gibt. Ich habe ein Gefühl für Sprache entwickelt, das ich so nicht hatte. Und mein Französischlehrer Böhmer: ein sehr humorvoller, kluger Kopf. Er ist interessanterweise der geworden, mit dem ich nach dem Abitur am meisten verbunden geblieben bin. Jahrelang habe ich ihm Manuskripte zum Lesen gegeben. Als Gegenspieler ist mir der Direktor in Erinnerung geblieben.
Die letzte Stunde freitags habe ich...
...immer schon das Wochenende geplant, per stille Post mit Zettelchenrumschicken. Wir waren viel im Grünen, haben Schnitzeljagd gespielt, Baumhäuser gebaut, Feuer im Winter gemacht. Später dann die Schnüffelpartys, Tanzstunde, Mädchen. Da waren tausend Dinge interessanter als Chemie oder Bio abzusitzen.
Ich musste schon mal nachsitzen, da ich…
...unordentlich und fehlerhaft in Klassenarbeiten war, da ich es schnell machen wollte. Dann musste ich einen Satz hundertmal abschreiben: Warum es sinnvoll ist, sauber und ordentlich zu schreiben. Das war bis zur Klasse zehn, dann hatte ich das Gefühl, dass ich Lehrer hatte mit denen ich mehr auf Augenhöhe war.
Wiedersehen mit meiner Schule:
Es war ein sehr ambivalentes Gefühl, das es eben diese Lehrer gab, denen ich verbunden war, aber auch jene anderen. Wobei ich sagen muss, ich bin 16 Jahre nach dem Abitur zu diesem Direktor gegangen. Da habe ich „Die Überlebenden“, den Film über meine drei Klassenkameraden, die sich das Leben genommen haben, gemacht. Dafür haben wir auch in der Schule gedreht. So habe ich auch den Direktor aufgesucht, das war dann wieder ein Versuch für diese Gräben, die da zwischen uns lagen, eine Sprache zu finden und im Prinzip habe ich mich 16 Jahre später mit dieser Schule versöhnt und auch insgesamt mit dieser Zeit.

Das Interview führte Sophia Jedrzejczak.

Biografisches zu Andres Veiel:

Andres Veiel wird 1959 in Stuttgart geboren. Nach dem Abitur beginnt er 1982 in West-Berlin Psychologie auf Diplom zu studieren. 1985 unterbricht er sein Studium für mehrere Jahre, um eine Regieausbildung beim Regisseur Krzysztof Kieslowski in Frankreich zu machen.

Er gründet eine Gefängnis-Theatergruppe, mit älteren Frauen im Alter von 70 bis 90 Jahren, so entsteht sein erster Dokumentarfilm „Winternachtstraum“ für das ZDF. Sein zweiter Film „Balagan“ wird mehrmals ausgezeichnet, unter anderem bekommt er den Deutschen Filmpreis in Silber.

Darauf folgen weitere Filme und weitere Auszeichnungen. Andres Veiel zählt zu den erfolgreichsten deutschen Filmemachern. Zudem inszeniert er auch fürs Theater und schreibt selbst. Weitere Informationen unter: www.agentur-brandner.de/klienten/veiel-a.html.sfj