Die Austauschschüler werden in Wladiwostok mit traditionellen Gewändern und Speisen empfangen. Foto: z/privat

Schüler der Waldorfschule am Kräherwald in Stuttgart-Nord sind für einen Schüleraustausch mehr als 8000 Kilometer weit ins russische Wladiwostok gereist. Dort machten die Zwölftklässler eine erstaunliche Entdeckung.

Stuttgart-Nord - Auf einem nahezu vollständig erschlossenen Planeten können sich nur noch wenige als echte Pioniere fühlen, wenn sie in die Ferne reisen. Doch genau so erging es 14 Schülern der zwölften Klassenstufe an der Waldorfschule am Kräherwald, die im April zwei Wochen zum Schüleraustausch in Wladiwostok waren. Noch nie hat laut der Schule eine deutsche Schülergruppe einen Austausch an den südöstlichsten Zipfel Russlands gemacht, mehr als 8000 Kilometer Luftlinie von Stuttgart entfernt. Dabei fanden sich die Schüler zwischen Polizeieskorten und Gastfreundschaft wieder. Ihr Urteil: Es gibt zwei Russlands, die parallel zueinander existieren. „Einmal die Öffentlichkeit und einmal das Privatleben hinter verschlossenen Türen“, sagt der 18-jährige Favian Bauer.

Sein Eindruck vom öffentlichen Russland bestand etwa aus Polizeieskorten, die die Schüler vom Flughafen in die Stadt brachten, wo sie von einem Komitee aus bunten Gewändern empfangen wurden. Wo die deutsche Nationalhymne gespielt wurde, Theater, Tanz und traditionelles Gebäck offenbar den Eindruck vermitteln sollte: Hier am Japanischen Meer ist alles in Ordnung.

Kein Treffen mit dem Bürgermeister: Er sitzt im Gefängnis

Nur zum geplanten Treffen der Schüler mit dem Bürgermeister von Wladiwostok kam es nicht; Igor Puschkarjow sitzt aktuell wegen des Verdachts auf Korruption im Gefängnis.

Das andere Russland sehe häufig ganz anders aus, so die Ausstauschüler. „Unsere russischen Austauschfamilien hatten ein echtes und aufrichtiges Interesse an uns, die Herzlichkeit war authentisch“, sagt Jonas Plattner. Die anderen Nicken. Besonders in den Gastfamilien und an der Austauschschule hätten sie das erlebt. „Während es draußen zum Beispiel für junge Leute als verpönt gilt, Händchen zu halten, wird im Kreise der Familien eigentlich offen über alles gesprochen“, sagt Plattners Klassenkamerad Franz Bruckner. Nicht selten auch über Politik.

Und alle Austauschschüler aus Stuttgart haben die Erfahrung gemacht: Dort gibt es einen Generationenkonflikt. „Während die Eltern oft froh über die stabilen Verhältnisse im Land sind und darum Putin zumindest in mancher Hinsicht befürworten, streben viele aus der nachfolgenden Generation eine westlichere oder andere Lebensweise an“, sagt Jonas Plattner. Da spiele natürlich das Internet eine sehr große Rolle.

Und das führt dazu, dass viele Jugendliche und junge Erwachsene englischsprachige Pop-Musik hören, zeitgemäße Mode tragen und von Europa träumen. Wobei nicht alle diese Vorstellungen der Wirklichkeit entsprechen. „Einer dachte, dass alle Leute aus Deutschland rote Haare haben“, sagt Franz Bruckner lachend. Andere seien geläufigeren Vorurteilen nachgehangen, etwa, dass in Deutschland alles sauber und die Deutschen allesamt fleißig, ordentlich und sehr ernst seien. Und wieder andere fast boshaften Vorurteilen. „Eine Reiseleiterin meinte, dass sie sich die Deutschen ‚hässlicher’ vorgestellt habe“, sagt Elena Eggenweiler, Russisch-Lehrerin an der Waldorfschule am Kräherwald.

Die Jungs waren von einer Traube aus Mädchen umgeben

Das war aber nicht die Regel. Die Mädchen in Wladiwostok jedenfalls waren von ihren exotischen Austauschschülern regelrecht begeistert. „Wir waren für die sowas wie kleine Justin Bibers“, sagt Jonas Plattner – und spielt auf den US-amerikanischen Popstar und Mädchenschwarm an. „Und wir Jungs waren die meiste Zeit von einer Traube aus Mädchen umgeben“, fügt Favian Bauer hinzu.

Doch auch die russischen Schüler hatten offenbar ihre Qualitäten. „Die waren sehr höflich und sind auch nicht zudringlich geworden, wenn es mal Party gab“, sagt die Zwölftklässlerin Marie Brußke.

Was sie jedoch schockierte: Die Art, wie viele der jungen Russen über Homosexuelle denken: „Da gibt es kaum Toleranz.“ Das hat auch Franz Bruckner in seiner Gastfamilie so erlebt: „Mein Austauschschüler war davon überzeugt, dass Homosexualität eine Krankheit sei und von Gott nicht gewollt ist.“ Dabei glaubt er nicht mal an Gott.

Nichtsdestotrotz fanden die Schüler der Waldorfschule ihre Reise nicht nur lehrreich, sondern auch wichtig: „Auch wenn es natürlich Differenzen gibt, gibt es keine Gründe nicht miteinander zu sprechen“, findet Jonas Plattner. Er freut sich darauf, wenn die interkulturellen Diskussionen weitergehen. Im Herbst kommen die Russen nach Deutschland.