Der deutsche Kartograf Henricus Martellus Germanus fertigte 1490 diese Weltkarte an, die der Darstellung seines Kollegen Martin Behaim aus dem Jahr 1492 ähnelt. Beide verraten starke Einflüsse des ptolemäischen Weltbildes. Foto: Wikipedia commons/Yale Library Archives

Die Weltkarte des Duisburger Kartografen Gerhard Mercator aus dem 16. Jahrhundert hängt bis heute in den meisten Klassenzimmern auf dem Globus. In der US-Metropole Boston ist das ab sofort anders. Dort sollen die Schüler die wahren Größenverhältnisse der Erde kennenlernen.

Stuttgart - Boston ist nicht nur die Heimatstadt der weltberühmten Harvard University und des ebenso bedeutenden Massachusetts Institute of Technology (MIT). In der größten Stadt in Neuengland und Hauptstadt des Bundesstaates Massachusetts an der Ostküste der USA gibt es 125 öffentliche Schulen, an denen rund 57 000 Schüler unterrichtet werden. Die meisten von ihnen sind Latinos und Schwarze. Weiße Schüler gehen in Boston traditionell auf teure Privatschulen.

Kartografische Revolution in Boston

Seit wenigen Tagen werden die Pennäler der Öffentlichen mit einer ungewohnten, fast schon revolutionären Sicht auf die Welt konfrontiert. Die Bostoner Schulbehörde hat ein kartografisches Pilotprojekt gestartet, mit dem sie den „Lehrplan entkolonisieren“ will, wie der zuständige Referent Colin Rose erklärt. „Die Mercator-Projektion zeigt Europa als Zentrum der Welt“. Nun werde die Weltkarte nicht mehr nur „die weiße Sicht der Geschichte“ zeigen.

Neben der klassischen und im Schulunterricht hauptsächlich verwendeten Mercator-Weltkarte wird den Bostoner Schülern ab sofort auch das Alternativprodukt des deutschen Historikers und Kartografen Arno Peters vorgesetzt.

Weltkarten als Herrschaftsinstrumente

Hinter der pädagogischen Initiative steht demnach nicht nur ein geografisches und kartografisches Interesse. Es geht genauso um Weltgeschichte. Weltkarten waren immer auch Herrschaftsinstrumente. So zeigen Weltkarten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert Europa als Nabel der Welt und Afrika als kartografisches Anhängsel. Im Zeitalter des Imperalismus war fast der gesamte Kontinent unter den europäischen Mächten als Kolonialbesitz aufgeteilt worden.

Weder Scheibe noch Mittelpunkt des Universums

Die Einsicht, dass die Erde weder eine Scheibe noch der Mittelpunkt des Kosmos sind, setzte sich endgültig mit den Erkentnnissen von Nikolaus Kopernikus (1473-1543), Gerhard Mercator (1512-1594) und Galileo Galilei (1564-1641) durch.

Der deutsche Astronom Kopernikus revolutionierte das bis dahin vorherrschende geozentrische Weltbild (Kopernikanische Wende), in dem die Erde den Mittelpunkt des Kosmos bildete, durch das heliozentrische Weltbild unseres Sonnensystems.

Der belgische Kartograf Mercator wiederum schuf mit seinen Weltkarten die Grundlage der modernen Kartografie. Mit seiner großen Weltkarte von 1569 erlangte er Weltruhm. Seine sogenannte Mercator-Projektion ist bis heute wegen ihrer Winkeltreue und Perspektive eine der wichtigen eindimensionalen Darstellungen des Globus.

Zwei Weltkarten auf einmal für Bostoner Schüler

In Boston haben die Schüler bislang wie fast überall auf der Welt mit Weltkarten der Mercator-Projektion gelernt. Doch nun bekommen sie parallel eine zweite Ansicht dazu: die Gall-Peters-Projektion. Diese Weltkarte stammt aus den frühen 1970er Jahren und gibt die globalen Größenverhältnisse der Kontinente und Länder realistischer – wenn auch deutlich verzerrter – wieder als die auf Mercator fußenden Karten.

Der deutsche Historiker und Hobby-Kartograf Arno Peters (1916-2002) veröffentlichte seine Weltkarte erstmals 1973. Sie bildete die Basis für den 1989 erschienen Peters-Atlas. Alle darin enthaltenen 212 Karten haben den gleichen Flächenmaßstab, was den direkten Größenvergleich verschiedener Regionen oder Staaten vereinfachen soll.

Durch diese Sichtweise bekommen Peters zufolge die Kontinente ihre „wahre Dimension“ und die Projektion wirkt dadurch der „eurozentristischen Denkweise“ entgegen. Peters Sicht auf die Welt ist in vielen Bereichen identisch ist mit der Projektion, die der schottische Kleriker James Gall (1808-1895) bereits 1855 veröffentlicht hatte. In Großbritannien arbeitet man in den Schulen deshalb schon seit langem mit der Gall-Peters-Projektion.

Kartografie – ein akkurates Geschäft

Eine Frage der Projektion

Bei Weltkarten ist die Frage der Projektion – also der optischen Übertragung von Daten – enorm wichtig, weil die vollständige, dreidimensionale Kugeloberfläche auf eine Ebene projiziert werden muss. Die Verzerrungen der Größenverhältnisse sind zum Teil erheblich.

Auf ihrer Homepage schreibt die Deutschen Gesellschaft für Kartographie (DGfK, der Duden empfiehlt übrigens die Schreibweise Kartografie): „Grundsätzlich kann die dreidimensionale Kugeloberfläche der Erde nicht in einer exakt übereinstimmenden, wirklichkeitsgetreu-objektiven Abbildung in die zweidimensionale Ebene eines Kartenblattes übertragen werden. Jede Abbildung verzerrt entweder die Flächengröße, die Strecken oder die Winkel zwischen zwei Orten, was in einem veränderten Aussehen der Umrisse der Landmasse resultiert.“

Das Dilemma mit den Dimensionen

Um dieses grundsätzliche Dilemma der Kartografie zu lösen, existieren viele unterschiedliche Projektionsentwürfe für Weltkarten. Für den allgemeinen Gebrauch werden in der Regel Kompromisse verwendet, die weder die Flächen und Winkel noch die Längen- und Breitengrade zu stark verzerrt wiedergeben – wie zum Beispiel die Robinson- und Winkel-Tripel-Projektion (siehe unsere Bildergalerie).

„Die Peters-Projektion hat sich nicht durchgesetzt, weil ich Kontinente, die ich auf dem Globus sehe, auf der Karte nicht wiedererkennen kann“, erklärt Thomas Michael, Geschäftsführer der Westermann Kartografie, gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“. Der Verlag gibt den in deutschen Schulen weitverbreiteten Diercke-Weltatlas heraus. „In der Peters-Projektion ist Afrika langgezogen wie eine Zuckerrübe.“

Die DGfK wirft Peters vor, seine Projektion ergebe „groteske Deformierungen der einzelnen Erdteile“. Die Kontinente sähen aus „als wären sie aus zerlaufenem Soft-Eis“.

Mercator und seine Nachfolger

Weltkarten und Maßstäbe

Wie jeder Kartograf vor und nach ihm stand Kosmograf Mercator im 16. Jahrhundert vor dem Problem, wie er die gekrümmte Erdoberfläche auf eine ebene Fläche darstellen konnte. Anders gesagt: Er musste eine runde Apfelsine schälen und platt wie Flunder pressen. Er löste es dadurch, dass er die Längengrade der Erde an den Polen auseinanderzog und im rechten Winkel die Breitengrade einzeichnete.

Dadurch aber wurde der Norden und Süden der Erdkugel voluminöser als sie es in Wirklichkeit sind. Grönland zum Beispiel erscheint so groß wie Afrika, obwohl der Schwarze Kontinent 14-mal größer ist als die Insel.

Schweden wirkt dreimal so groß wie Indien, obwohl es nur ein Siebtel von dessen Landfläche umfasst. Europa machte Mercator zum kartografischen Herz der Welt, obwohl es tatsächlich nur ein winziger Appendix der globalen Landmassen ist.

Atlanten up to date

Die Winkel-Tripel-Projektion werde in der Schule hauptsächlich verwendet, erklärt Kartograf Michael der „SZ“. „Weil sie die Kontinente noch formentreu zeigt, aber gleichzeitig die Größenverhältnisse besser wiedergibt als die Mercator-Projektion.“ Damit sich die Schüler die richtigen Größenverhältnisse einprägten, würden Schulatlanten außerdem alle Kontinente im gleichen Maßstab zeigen.

Die DGfK stellt unmissverständlich klar, dass es „kein objektives, exaktes Abbild der Erde in Karten“ gäbe. Weltkarten sind also nicht anderes als – wenn auch detailgetreue und äußerst penible – Zerrbilder der Erdoberfläche.

Erfreulicherweise, so die Kartografen-Vereinigung weiter, habe die Kartografie aber eine Vielzahl an ausgereiften Projektionen zu bieten. Offiziell empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Kartographie sie Entwürfe nach Winkel, Wagner und Robinson (siehe Bildergalerie). Als genaueste Weltkarte gilt dem,nach derzeit die AuthaGraph World Map des japanischen Architekten und Designers Hajime Narukawa aus dem Jahr 1999.