Sasa Stanisic weiß, was man zur Gegenwart hinzuerfinden muss, um sie erträglich zu machen. Foto: dpa

Der jugoslawische Bürgerkrieg hat Sasa Stanisic 1978 nach Deutschland verschlagen. Inzwischen schreibt er die lebendigste Prosa der Zeit. Die Staat Aalen hat ihm am Sonntag den Schubart-Literaturpreis verliehen.

Aalen - Wie es sich anhören könnte, die Eigenart eines Schreibens in die literaturpreisgemäße Huldigungsprosa einer Laudatio zu verwandeln, hat Sasa Stanisic in der Titelgeschichte seines jüngsten Erzählbandes „Fallensteller“ mit dem ihm eigenen verschmitzten Witz vorgeführt: Ein junger Bewohner des uckermärkischen Dorfes Fürstenfelde namens Lada hat es darin diesem Jugo gleichgetan, der sich dort einmal rumgetrieben hat. Lada beginnt also zu schreiben. Prompt gewinnt er damit einen Literaturpreis, nicht so bedeutend wie der Leipziger Buchpreis, den der Jugo für seinen Dorfroman „Vor dem Fest“ erhalten hat. Aber immerhin. In der Begründung der Jury heißt es nun: „Robert Lada Zieschke komponiert in seinem rasanten Milieustück eine Sinfonie der Provinz jenseits der großen Themen und abseits des Mainstreams. Die originelle Musikalität seiner Sprache sucht ihresgleichen in seiner Generation, was sicherlich damit zu tun hat, dass Zieschke ein Autor mit Provinzhintergrund ist.“

Man ahnt, wie oft derjenige, der sich hinter dem besagten Jugo der Erzählung verbirgt, vor wechselnden Hintergründen schon Ähnliches über sich gehört haben mag. Der jugoslawische Bürgerkrieg hat den 1978 in Bosnien geborenen Autor einst nach Deutschland verschlagen. Da war er 14 Jahre alt. In Heidelberg ging er zur Schule, studierte Deutsch und Slawistik, bevor er nach Leipzig ins Literaturinstitut wechselte. Von all dem handelt sein Debüt „Wie der Soldat das Grammofon repariert“: vom Zerbrechen der Wirklichkeit und vom sich Wiederfinden in der Erzählung. Acht Jahre später dann der zweite Roman „Vor dem Fest“ über die eigenartigen Bräuche des Dorfes Fürstenfelde in der Uckermark, 2014 mit dem Leipziger Buchpreis geehrt.

Stanisic heftet darin sein Ohr an den Boden der märkischen Erde, um dort die leisen Signale, Botschaften, Erschütterungen einer anderen Geschichte einzufangen, einer, die ganz nah ist und doch weit zurückreicht und die lange Nacht ausfüllt, die dem Fest, dem großen Ereignis im Leben der Bewohner Fürstenfeldes, vorausgeht.

In der Wertschätzungsfalle

Kriegsgräuel, Migration, Vielstimmigkeit – mit diesem Dreischritt hat man den Autor nun doch beinahe in die Wertschätzungsfalle-Falle gejagt, in der die Katastrophenkulinarik des Kulturbetriebs ihre Beute macht. Mit jedem seiner Sätze sträubt sich Stanisic gegen die Fesseln solcher Festlegungen. Und wenn man das Geheimnis der Lebendigkeit dieser Prosa auf den Begriff bringen wollte, dann wäre es gerade die agile Gleitbewegung, mit der sie sich jeglichem Zugriff entwindet – wenn wohlaustarierte Satzperioden im letzten Moment vor der absehbaren Sinnbestimmung noch einmal abbiegen ins Blaue hinein.

Hier ist es an der Zeit für eine kleine Spritztour zu Christian Friedrich Daniel Schubart, für einen Sprung kopfüber ins Wasser der Erinnerung, um darin nach der erstbesten Beute zu greifen: Es ist natürlich jene launige Forelle, die der in Aalen aufgewachsene Autor in seinem vielleicht berühmtesten Gedicht so beschreibt, wie man die helle, funkelnde Wendigkeit der in froher Eil dahinschießenden Einfälle Stanisic’ fassen könnte. Aber lasse man sich hier wie dort nur nicht von der lichten Heiterkeit blenden.

Schubart hat die originelle Musikalität seiner Sprache seinem Festungshintergrund abgerungen. Das Gedicht ist während der zehnjährigen Haft auf dem Hohenasperg entstanden, und es erzählt, wie ein Wesen, das sich unschuldig seiner Freiheit erfreut, zum Opfer derer wird, die im Trüben fischen. Zur Erinnerung: „Doch endlich ward dem Diebe / Die Zeit zu lang; er macht / Das Bächlein tückisch trübe: / Und eh’ ich es gedacht, / So zuckte seine Ruthe / Das Fischlein zappelt dran; /Und ich, mit regem Blute, / Sah die Betrogne an.“ So heißt es in der dritten Strophe von Schubarts Gedicht.

Trübes Wasser allerorten

Sasa Stanisic stammt aus Visegrad, der Stadt, in der der Literaturnobelpreisträger Ivo Andric mit seinem Roman „Die Brücke über die Drina“ die Vorgeschichte dessen erzählt, was in den Jugoslawienkriegen zerstört wurde. Auch in der Drina gab es einmal Forellen, Diebe, Jäger und am Ende viel, viel trübes Wasser. Heute gehört Visegrad zum serbischen Teil Bosniens. Der einstige Vielvölkerstaat ist in die Festlegungsfalle geraten und ging darin unter.

Der Fallensteller, von dem Stanisic erzählt, ist in Wirklichkeit eher ein Befreier. Er zerstreut die Bedrohungsphantasmen, die von den Leuten Besitz ergriffen haben. Im Bann seiner Fallen leben Mensch und Kreatur friedlich vereint. Über das aber, was uns die Freiheit wirklich raubt, rappt er mit seherischer Gabe: „Nationalismus, Protektionismus . . . Europas größte Fallen . . . Sich Ressourcen krallen, bis vor Ort sich Fäuste ballen . . . Waffen liefern, Kriege schüren, dann verschließen jene Türen, die vom Blutvergießen in Sicherheit führen . . . Die maroden Boote derer, die es wagen . . . Oh, Ägäis, deine neuen brutalen Sagen.“ Das ist die Schlinge, die sich nicht nur in Europa gerade zuzuziehen droht. Spielerischer kann man sich darauf keinen Reim machen. Ernster auch nicht.

So libellenleicht und schwebend Stanisic mit der Sprache spielt, so bodenlos tief und dunkel ist der darunterliegende Grund. Beide Sphären fließen im Lebensstrom der letzten Geschichte des „Fallensteller“-Bandes zusammen. Auf der Oberfläche treibt das erfolgreiche Dasein eines jungen, zeitgemäß polyamourös veranlagten Weltenbummlers dahin, leise begleitet von einer Unterströmung der Erinnerung an den im Sterben liegenden Großvater, der ihm einst im Fluss das Schweben beigebracht hat.

Das komplizierte Seelenleben der Füchse

Stanisic hat es über den Fluss geschafft. Er hat eine neue Sprache gelernt. Eine? Das klingt mal nach früher Neuzeit, mal nach deutschem Hip-Hop, mal nach hoher Dichtung und mal nach schwieriger Sozialprognose. Wie in Drachenblut gebadet versteht man endlich das komplizierte Seelenleben der Füchse, was in ihnen vorgeht, wenn sie sich in Todesgefahr ein gestohlenes Ei auf der Zunge zergehen lassen oder die Witterung eines Wolfs aufnehmen.

Eine politische Wolfswitterung hatte auch Schubart in der Nase. Mit den Helden Stanisic’ teilt er das Schweifende. „Ich bin in Deutschland geboren und bin doch in Deutschland ein Fremdling, ich bin in Schwaben erzogen und bin doch in Schwaben ein Fremdling, ich bin ein Reichsstädtler und keine einzige Reichsstadt erkennt mich für seinen Bürger.“ Schubarts Freiheitsdrang, sein Kampf für Aufklärung, sein Eintreten für eine Emanzipation der Bauern und Bürger sammelt sich im Medium seiner „Deutschen Chronik“, in der er gegen die Willkür absolutistischer Fürsten zu Felde zieht.

Womit man wieder in Fürstenfelde wäre, dem Dorf aus dem Roman „Vor dem Fest“. Man begegnet darin ebenfalls einer Chronistin. Sie heißt Frau Schwermuth und weiß alles. Sie kennt die Dramen des Gesangsvereins, die Kriegstoten in diesem und in jenem Krieg und die Fischfangmengen des Jahres 1744. Vermutlich würde sie auch die von 1783 kennen, des Jahres, in dem Schubarts „Forelle“ im Schwäbischen Musenalmanach erschienen ist. Vor allem aber weiß Frau Schwermuth, dass die Vergangenheit wie jede gute Erzählung ordentlich lektoriert sein will. Und gelinde gesagt, geht sie mit dem Text sehr frei um, weil sie weiß, dass eine Vergangenheit nur so gut ist, wie die Gegenwart, zu der sie verhilft.

Sasa Stanisic ist der Chronist jener Geschichte, die wir uns zur Gegenwart hinzuerfinden müssen, um nicht in Schwermut zu versinken. In seiner schwellenkundigen Literatur gerät alles in Bewegung. Alle Grenzen lösen sich auf, zwischen Mensch und Natur, zwischen Räumen und Zeiten, Leben und Tod. So wirkt in seinen Werken der zerstörte Traum eines poetischen Vielvölkerstaats weiter, größer und schöner als er jemals existiert hat. Und wir alle gehören zu seinen Bürgern. Das ist mehr als eine billige Weisheit, das ist die große Hoffnung, die die gemeinsame Sprache dieses Schreibens weckt.