Mit der Konjunktur zieht die Nachfrage nach Leiharbeitern drastisch an. Missbrauch

Mit der Konjunktur zieht die Nachfrage nach Leiharbeitern drastisch an. Missbrauch wie beim Drogeriemarkt Schlecker kann dabei jederzeit wieder vorkommen. Zurzeit muss sich der Stuttgarter Autobauer Daimler gegen den Vorwurf geringer Bezahlung wehren.

Von Petra Otte

STUTTGART. Die Aussage von Daimler-Finanzchef Bodo Uebber ließ aufhorchen: Um die Produktion flexibler der Nachfrage anzupassen, wolle der Autokonzern stärker auf Leiharbeiter und externe Dienstleister setzen, kündigte Uebber jüngst an. Nur Tage später meldete sich ein Leiharbeiter bei Daimler in Sindelfingen zu Wort - unter anderem mit dem pikanten Detail, dass er lediglich 7,73 Euro pro Stunde verdiene. Dies ist laut einer Vereinbarung Daimlers verboten, grundsätzlich bekommen Leiharbeiter am Band so viel wie fest angestellte Berufsanfänger. Deren Stundenlohn beträgt 16,60 Euro, also mehr als doppelt so viel wie der Verdienst des Leiharbeiters.

Ausgeschlossen ist eine niedrigere Bezahlung dennoch nicht. Denn nicht der Autobauer, sondern ein Subunternehmer beschäftigt den Arbeiter. Dazu sagt eine Konzernsprecherin: "Über sogenannte Werkverträge kaufen wir unter anderem fertige Dienstleistungen zum Beispiel für die Logistik ein. Wir kaufen über Werkverträge keine Arbeitskraft ein. Deshalb haben wir auch keinen Einblick in die Verträge, die die Dienstleister mit ihren Mitarbeitern beziehungsweise Zeitarbeitern abschließen."

Unter dem Strich bedeutet das, dass Daimler die einheitlichen Vergütungsregeln von Festangestellten und Zeitarbeitern sowie eine festgeschriebene Begrenzung der Leiharbeiter auf maximal 2500 deutschlandweit über Verträge mit Dienstleistern einfach umgehen kann. "Werkverträge sind eine große Schwierigkeit", sagt eine Sprecherin des Gesamtbetriebsrats, darüber würden die Daimler-Arbeitnehmervertreter weder informiert, noch seien sie für die Beschäftigten der Dienstleister zuständig.

Dass Unternehmen aus Spargründen nicht nur Personal, sondern komplette Leistungen zukaufen, ist normaler Wirtschaftsalltag. Um Letztere möglichst günstig und damit für den Auftraggeber attraktiv anzubieten, "nutzen auch Subunternehmen alle Möglichkeiten der Kostensenkung", sagt Peter Schüren, Direktor des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrecht an der Universität Münster. Wer die Bedingungen für die Zusammenarbeit vorab nicht klar festlegt und etwa einen Mindestlohn vorschreibt, kann dem Auftragnehmer im Nachhinein kaum Vorwürfe machen. Schüren: "Das ist in etwa so, als ob ich jemandem, der sparen muss, vorschreibe, seinen Badezimmerteppich bei Manufactum statt bei Aldi zu kaufen - wenn ich das will, muss ich auch mehr Geld für die Leistung bezahlen."

Im Daimler-Konzern machen sittenwidrige Arbeitsbedingungen bei Subunternehmen nicht zum ersten Mal Schlagzeilen. Im November berichtete unsere Zeitung über Schikanen und unbezahlte Überstunden bei der damaligen Reinigungsfirma Klüh; nach einer Razzia auf dem Werkgelände und Ermittlungen der Staatsanwaltschaft hat Daimler den Vertrag nicht verlängert. Betriebsräte werfen dem Konzern vor, systematisch bei Fremdfirmen Leistungen billiger einzukaufen - das Motorenwerk Stuttgart-Untertürkheim hat zuletzt in einem Jahr ebenso viele Ausweise für Fremdpersonal ausgegeben, wie das Werk Stammbeschäftigte hat. "Die Manager nehmen sehenden Auges in Kauf, dass sich prekäre Arbeitsverhältnisse weiter verbreiten", schimpft der Untertürkheimer Betriebsrat Tom Adler. Im dortigen Daimler-Werk arbeiten Leiharbeiter für 7,51 Euro Stundenlohn bei einem Logistikdienstleister, wer sich über die Arbeitsbedingungen beschwert, "wird zur Leiharbeitsfirma zurückgeschickt, und der Nächste wird geholt", sagt Adler.

Missbrauch betreibt Daimler damit nicht, längst wird Leiharbeit in der gesamten Wirtschaft nicht mehr nur zur Abfederung von Auftragsspitzen genutzt, sondern ist Teil der strategischen Planung. Zum Beispiel beim Flugzeugbauer Airbus: Am Standort Hamburg-Finkenwerder stellen die 5000 Leiharbeiter fast ein Drittel des Personals, eingestellt wurden sie, um Verzögerungen beim Prestigeprojekt A380 wettzumachen. Seit Airbus dabei aufholt, fliegen die Leiharbeiter sukzessive raus.

Für Gewerkschafter ist ein solches Vorgehen mit der Zielsetzung von Zeitarbeit ebenso wenig vereinbar wie die massiv kritisierten Praktiken bei Schlecker. Die Drogeriekette soll Mitarbeiterinnen in eine mit ihr verflochtene Leiharbeitsfirma verschoben und von dort für rund die Hälfte ihres früheren Lohns wieder entliehen haben. Zwar hat Schlecker nach Bekanntwerden der Vorgänge im Januar die Zusammenarbeit mit der Zeitarbeitsfirma aufgekündigt - in Politik- und Gewerkschaftskreisen ist der Ruf nach einer Reform der Zeitarbeit seither aber nicht verebbt. "Missbrauch gibt es nicht nur bei Schlecker, auch größere Teile der Industrie versuchen, neben den Tarifstrukturen durch Leiharbeit einen Niedriglohnsektor in den Betrieben zu etablieren", sagt Detlef Wetzel, der zweite Vorsitzende der IG Metall. Qualifizierte Zeitarbeiter verdienen nach einer Studie im Schnitt 35 Prozent weniger, bei Geringqualifizierten beträgt die Lohndifferenz zwischen Leih- und Stammarbeitskräften bis zu 45 Prozent.

Um Missbrauch einzudämmen, empfiehlt Arbeitsrechtsexperte Schüren, zunächst den Verleih mit hauseigenen Leiharbeitsfirmen nur bei gleichem Lohn zu erlauben; ein jüngst geschlossener Tarifvertrag zwischen DGB und dem Bundesverband Zeitarbeit schließt erstmals ausdrücklich Verleiher aus, die mit dem Einsatzbetrieb der Beschäftigten verbandelt sind. Nicht zuletzt müssen konzerninterne Leiharbeitnehmer, die nur für einen Kunden befristet eingestellt werden, gemäß einer EU-Richtlinie den gleichen Lohn erhalten wie Stammpersonal.

Deutschlandweit halten sich zahlreiche Firmen ähnlich wie Schlecker ein eigenes Vermittlungsunternehmen, zu den bekanntesten zählen Autovision und die Wolfsburg AG, die beide zu Volkswagen gehören, Vivento von der Deutschen Telekom sowie die DB Zeitarbeit der Bahn. Die genaue Zahl lässt sich laut dem Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) kaum ermitteln, der Verdacht auf eine hausinterne Verleihung besteht aber immer dann, wenn neue Verleihfirmen schon bei ihrem Start mehr als 100 Menschen beschäftigen. Zwischen Mitte 2006 und Mitte 2008 waren das 175 mit insgesamt 30 000 Mitarbeitern. Schüren geht davon aus, dass neben Schlecker auch andere Firmen mit hausinternem Verleiher Konstruktionen am Rande der Legalität "ausprobiert haben". Missbrauch wie bei der Drogeriekette wurde indes selten publik. Die DB Zeitarbeit ist sogar auf Betreiben von Arbeitnehmervertretern entstanden, damit wollten sie sicherstellen, dass Leiharbeit bei der Bahn nach einheitlichen Regeln läuft.

Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen fordert nun von Gewerkschaften und sämtlichen Arbeitgeberverbänden in der Zeitarbeitsbranche, Missbrauch schnellstmöglich zu unterbinden - sonst werde die Regierung "einen Riegel vorschieben". Die Zeit ist überfällig. "Die deutsche Leiharbeitsgesetzgebung verstößt gegen Europarecht", schimpft Wetzel, "wenn der Gesetzgeber nicht rasch handelt, wird sich der Trend, Stammbeschäftigte durch Leiharbeitnehmer zu ersetzen, noch verschärfen."

Die IG Metall rechnet damit, dass sich die Zahl der Leiharbeiter demnächst auf bis zu 2,5 Millionen bundesweit erhöhen könne - der Rekord lag bei 820 000. Solange es aber unterschiedliche Tariflöhne für Zeitarbeiter sowie Werkverträge wie bei Daimler gibt, wird ein Teil der Zeitarbeiter weiter weniger verdienen als Stammbeschäftigte.