1955: In einem Büro des Suchdienstes im Lager Friedland werden Kriegsheimkehrer aus der Sowjetunion von DRK-Helferinnen nach weiteren vermissten Personen befragt. Foto: DRK

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es von Millionen Vätern und Söhnen kein Lebens- und kein Todeszeichen. Der Deutsche Suchdienst machte sich auf die Suche nach den Verschollenen, die bis heute andauert. Jetzt beginnt für den Dienst eine neue Ära.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es von Millionen Vätern und Söhnen kein Lebens- und kein Todeszeichen. Der Deutsche Suchdienst machte sich auf die Suche nach den Verschollenen, die bis heute andauert. Jetzt beginnt für den Dienst eine neue Ära.

München - Im Foyer des Deutschen Suchdienstes in München hängt eine schlichte Plakette. „Je teurer uns ein Mensch gewesen ist, umso tiefer würden wir ihn verleugnen, wenn wir uns weigerten, an der letzten und gewaltigsten Erschütterung seines Daseins, so wie sie wirklich war, teilzunehmen.“ Dieser Spruch macht deutlich, worum es geht in diesem Bürogebäude im Münchner Stadtteil Giesing: Der Deutsche Suchdienst, der dort seinen Sitz hat, spürt Verschollenen nach.

50 Millionen Karteikarten reisen nach Hamburg

Die meisten Zimmer sind allerdings schon leer geräumt, aber nach altem Papier riecht es immer noch. Bis vor wenigen Tagen lagerten hier im ersten Stock 50 Millionen Karteikarten. Jetzt warten die „Müllers“, „Maiers“ und ein paar andere nur noch auf die Reise nach Hamburg.

Die Zentrale Namenskartei (ZNK) des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), die weltweit größte ihrer Art, hat ausgedient, jedenfalls in ihrer papierenen Form. Zehn Jahre lang waren im Schnitt acht Mitarbeiter damit beschäftigt, die Daten auf eine fünf Terabyte große Festplatte zu übertragen. Jetzt ruhen die vielen Namen und Schicksale aus 35 271 Karteikisten, die aneinandergereiht eine Strecke von 12,5 Kilometern ergeben, in einem kühlschrankgroßen Computer in einem unscheinbaren, gekühlten und gut gesicherten Raum.

Die Karteikarten mit den Angaben von Suchenden und Gesuchten allein zum Zweiten Weltkrieg werden allerdings nicht zum Altpapier gegeben. Bis Mai werden die Zeugnisse des größten humanitären Desasters des 20. Jahrhunderts per Lastwagen über zwei Zwischenlager in eine Außenstelle des Suchdienstes in Hamburg verfrachtet – in ein anderes Gebäude des Roten Kreuzes, wo der Platz nicht so knapp und teuer ist wie am DRK-Standort in München. Auch das Berliner Bundesarchiv hätte als Karteikarten-Lager infrage kommen können, doch leider sind auch dort die Kapazitäten beschränkt.

Suchdienst läuft auch noch 70 Jahre nach Kriegsende

Standortleiter Thomas Huber und Archivar Christoph Raneberg bleiben in München, denn die Arbeit des DRK-Suchdienstes ist auch fast 70 Jahre nach Kriegsende noch nicht beendet. Jetzt freilich läuft sie ausschließlich computergestützt. Die vergilbten Karteikarten werden nur noch für museale Zwecke aufbewahrt.

Die Millionen Karteikarten machen die ganze Dimension der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs begreifbar. Unmittelbar nach Kriegsende begann das Rote Kreuz damit, nach den vermissten Soldaten und Zivilisten zu suchen, die vor allem irgendwo im Osten Europas verschwunden waren. Für jede Person, die nach einem Angehörigen suchte, wurde eine Karteikarte ausgefüllt, ebenso für jeden Heimkehrer, der wissen wollte, wohin es seine Familie auf der Flucht verschlagen hat.

Geschichten unzähliger Schicksalen festgehalten

Auf diese Weise wurden 30 Millionen Menschen und ihre Schicksale auf rund 50 Millionen Karteikarten beim Suchdienst München und weiteren 15 Millionen in der Außenstelle Berlin mehr oder weniger penibel verewigt. Die Karteikarten erzählen das Schicksal von Menschen, von zerrissenen Familien und jahrelanger Ungewissheit – oder vom Schicksal der Kinder, die in den Kriegswirren ihre Eltern verloren und nie wussten, woher sie wirklich kamen.

Millionenfach hat das DRK in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Angehörige zueinanderführen oder ihnen die traurige Gewissheit vom Tod des Vaters oder Sohnes verschaffen können. Doch wie gewaltig die humanitäre Katastrophe des Zweiten Weltkriegs war, lässt sich daran ermessen, dass der Verbleib von fast 1,3 Millionen Soldaten und Zivilisten deutscher Nationalität immer noch ungeklärt ist. In den meisten Fällen wird dies wohl auch so bleiben.

Trotz aller Bemühungen blieben viele Schicksale von Wehrmachtsangehörigen und Flüchtlingen vor allem im Osten ungeklärt. Bis zur Wiedervereinigung arbeiteten die Suchdienste in Westdeutschland und der DDR mit allenfalls sporadischem Austausch nebeneinander her. Auch von der Sowjetunion seien Anfragen aus Deutschland nur „in sehr geringem Umfang“ beantwortet worden, berichtet Huber.

Digitalisierung war eine Herkulesaufgabe

Bedauerlicherweise wurden die Angaben nicht computerkompatibel erfasst, was die Digitalisierung in den letzten zehn Jahren zu einer Herkulesaufgabe machte. Geschrieben wurde auf Karton oder Papier mit Tinte, Schreibmaschine und Bleistift, es wurde gestempelt, abgehakt, ausgestrichen, unterstrichen und überschrieben. Niemand dachte in der Nachkriegszeit daran, dass es einmal Maschinen geben würde, die lesen können. Trotz allen Fortschritts in der Software war es nicht möglich, die Inhalte zu scannen, bedauert Standortleiter Huber.

Doch 69 Jahre danach ist der DRK-Suchdienst zum Zweiten Weltkrieg immer noch gefragt. Noch lebende Gesuchte würden zwar kaum noch gefunden, aber die nachfolgenden Generationen interessierten sich zunehmend für das Schicksal ihrer Altvorderen, berichtet Huber. Dieses Interesse an der eigenen Familie werde auch dadurch erhöht, dass historische Stätten wie Friedhöfe in Russland und anderen ehemaligen Ostblockländern inzwischen ohne weiteres erreichbar seien.

Anfragen kommen mittlerweile von den Enkeln

Wenn die Mitarbeiter des DRK-Suchdiensts künftig Anfragen von Angehörigen bearbeiten, die heute nicht mehr von Eltern und Ehefrauen, sondern von Enkelkindern kommen, brauchen sie dazu nicht mehr einige Stunden, sondern nur wenige Sekunden, sagt Huber. Eine Eingabe, ein Klick – und das Schicksal breitet sich auf dem Computerbildschirm aus.

Es sind Schicksale wie das des Gefreiten Johann, der erst 20 Jahre alt war, als er mit der Maschinengewehr-Kompanie der 297. Infanterie-Division in die Schlacht von Stalingrad zog. Er sollte nie in seinen Heimatort Dachau zurückkehren. Seine Mutter Emilie suchte vergeblich nach ihm. Alles, was ihr blieb, war ein Gutachten mit dem Ergebnis: Ihr Sohn war wahrscheinlich gefallen – wie so viele mit ihm.

Im Jahr 1950 wurden alle Familien aufgerufen, ihre Vermissten zu melden. Plakate mit dem „Aufruf zur Registrierung der Kriegsgefangenen und Vermissten“ hingen überall in Deutschland. Die Zahl stieg nach der Erfassung zwischen dem 1. und 11. März 1950 auf 2,5 Millionen Vermisste. Der Suchdienst erfasste ihre Namen und Daten, legte umfassende Bücher mit Fotos an und diese Heimkehrern mit der Frage vor: „Hast du ihn gesehen?“ Sechs Millionen Heimkehrer wurden so befragt.

Noch rund 1,2 Millionen ungelöste Fälle

Heute gibt es nach Suchdienst-Angaben noch rund 1,2 Millionen ungelöste Fälle. Weiterhin gibt es aber die Hoffnung, Tausende weitere in Zukunft, auch Jahrzehnte nach Kriegsende, noch klären zu können. Denn in den 1990er Jahren hat der Suchdienst einen großen Schatz gefunden: Die ehemalige Sowjetunion überließ ihm Akten über deutsche Soldaten.

Millionen Datensätze zu Millionen deutschen Kriegsgefangenen kamen in München an, zu den rund 13 000 Anfragen, die der Suchdienst nach Angaben Hubers pro Jahr bearbeitet, kommen rund 16 000 weitere Fälle, die die Mitarbeiter von sich aus wieder aufrollen, um endlich Antworten geben zu können.