Szene aus „Purpurstaub“ Foto: Ostkreuz

Sean O’Caseys Drama „Purpurstaub“, gespielt in vier Stunden ohne Pause. Die sechs Schauspieler, der Musiker und ein Huhn in Sebastian Hartmanns Inszenierung schaffen das grandios, nur die Zuschauer schwächeln. Im Oktober kommt die Inszenierung nach Stuttgart.

Sean O’Caseys Drama „Purpurstaub“, gespielt in vier Stunden ohne Pause. Die sechs Schauspieler, der Musiker und ein Huhn in Sebastian Hartmanns Inszenierung schaffen das grandios, nur die Zuschauer schwächeln. Im Oktober kommt die Inszenierung nach Stuttgart.

„War noch was?“, fragt die Dame ihren Begleiter, als sie sich wieder auf ihren Platz setzt. Auf der Bühne wickelt sich ein Schauspieler gerade in einen Teppich ein, andere sind als Tiere verkleidet oder gehen herum. „Nö“, raunt der, „die sind nur alle kurz mal im Kamin verschwunden.“ So belauscht man am Samstag während der Premiere von Sean O’Caseys (1880–1964) „Purpurstaub“ im Parkett fast bühnentaugliche Dialoge.

Sebastian Hartmann hat das Stück von 1940, das seine deutsche Erstaufführung 1963 in Stuttgart erlebte und heute nur noch im Antiquariat zu kaufen ist, in einer Koproduktion des Schauspiels Stuttgart mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen inszeniert. Aus künstlerischen Gründen, so steht es auf Zetteln am Eingang des Festspielhauses, habe man auf eine Pause verzichtet. Das Publikum dürfe aber gern den Saal verlassen, um gestärkt zurückzukommen.

So ein Zugeständnis an die Zuschauerdisziplin ist gefährlich. Viele sind nach einer Dreiviertelstunde gegangen und nicht wieder erschienen. Da redeten die Schauspieler Sandra Gerling und Peter René Lüdicke gerade mit angeklebten Bärten und in schwer verständlichem Kunst-Dialekt Unsinn über das Landleben, assistiert von Anja Schneider und Manja Kuhl, die sich geziert und wirr über Primeln ausließen. Später sollten die Landleben-Romantiker selbst ein Huhn (von Manolo Bertling sorgsam durch den Raum getragen) nicht von einer Kuh unterscheiden können. Es war jedenfalls früh zu ahnen: Mit einem gepflegten Salonstück über gestresste reiche Großstädter auf dem Lande würde es hier wohl nichts werden.

Die Schauspieler hatten sich zuvor ausgiebig warmgespielt und dreißig Minuten lang zu irgendwie irisch klingender Volksmusik Fantasieveitstänze aufgeführt, gerade so, wie O’Casey es beschreibt. Es gab da allerdings auch schon ersten Szenenapplaus für die in Federn, Tüll und Netzstrumpfhosen gewandeten Damen (Kostüme: Adriana Braga Peretzki) Sandra Gerling, Anja Schneider und Manja Kuhl, die auf Stöckelschuhen lange lustig herumsprangen.

Nach drei Stunden dann überall ganz gute Sicht im Saal, der sich merklich geleert hat. Die Regie spekulierte darauf (Sebastian Hartmann hat als Bürgerschreck einen gewissen Ruf zu verteidigen) und hat die Schauspieler animiert, das durchaus zu kommentieren. „Mein Jott, is dett furchbar“, „immer jemand, der sich nur in den Vordergrund spielen will“ – bei solchen Szenen sind die Lacher besonders laut.

Es sind Lacher der verzweifelt komischen Erschöpfung. Denn diejenigen, die geblieben sind, haben einen intellektuell nicht allzu fordernden, manchmal klamaukig doofen, aber auf alle Fälle amüsanten, fantasievollen Abend erlebt. Vor allem Holger Stockhaus hat großartige Auftritte, er bringt das Publikum zum Kanon-Singen des Psalms „Danket dem Herrn, denn er ist sehr freundlich“ , er zeigt eine Perücken-Puppenspiel-Flirtszene mit Fistelstimme und Slapstick, bei dem er variantenreich so lange „dritter Akt“ wiederholt, bis er – „Tick, Trick und Track“ – ins Reimen und Rappen gerät.

Auch wenn der Abend in seiner Volksbühnenhaftigkeit absichtsvoll zerfasert, zeigt sich immer wieder, wenn Manja Kuhl oder Anja Schneider traumverloren schöne Sätze zelebrieren, die Liebe zu diesem Text über Menschen, denen der Lebenssinn verloren gegangen ist. Sean O’Casey liebt die Sprache, er lässt seine Figuren solche Sätze sagen: „Ich weiß doch, dass die Wahrheit nur im Glanz der Wörter steckt, die Sie auf mich hereinregnen lassen.“

Sebastian Hartmann liebt den Glanz auch. Und er liebt die große Geste, also lässt er (denn er ist auch für das Bühnenbild verantwortlich) den zweiten Teil des Dramentitels „Dust“ in riesigen Leuchtbuchstaben vom Bühnenhimmel herabschweben, glänzender Staub hängt dann in nebelverhangener Luft. PURPUR steht auf einem Silberbühnenvorhang. Weil Hartmann keinem Realismus verpflichtet sein will, ist das Wort eben auch nicht in Farbe aufgeschrieben.

Sogar eine Art Rechtfertigung für seine Realismusverweigerung hat er inszeniert. Auf Videoleinwand zeigt der Regisseur einen Film mit O’Casey, auf der Bühne steht Manolo Bertling, der auf Deutsch wiederholt, was O’Casey auf Englisch sagt. O’Casey äußert in dem Interview sein Unbehagen an der Wirklichkeit. Und darüber sprechen auch die Schauspieler. Die ernst gemeinten Momente machen oft nicht so beklommen, wie sie es machen könnten, weil sie nur dahingeschwätzt wirken.

O’Casey sagt auch, dass es fünfzig Möglichkeiten gibt, ein Stück zu schreiben, und fünfzig Möglichkeiten, es zu interpretieren. So viel zum Thema Werktreue, will Hartmann damit sagen, wobei er es damit selber gelegentlich übergenau nimmt. Er lässt auch die Regieanweisung aufsagen, wie das Schloss in der Pampa aussieht, das zwei reiche Londoner gekauft haben, um mit ihren Geliebten das Landleben zu üben. Und die aber doch merken, dass sie mit sich nichts anfangen können und die Welt mit ihnen auch nicht – am Ende naht weltuntergangsartig eine große Flut.

„Der Vorhang fällt“, sind die letzten Worte, und das tut er: Rote Stoffbatzen platschen auf die Bühne. Eine halbe Stunde lang verabschieden sich die Schauspieler noch mit Kulissenschieberei zu elegischer Barockmusik. Der Musiker Steve Binetti, der zu Beginn aufs Schönste im Dunkel mit seinem Leuchthut über die Bühne irrlichterte, will und will kein Ende finden. Er geht klagende Gitarrentöne spielend umher, bis das Licht gnädig erlischt. Wer gebuht hätte, war längst fort. Heftiger Applaus von den Dagebliebenen.

Weitere Termine am 19. und 20. Mai in Recklinghausen. Die Stuttgarter Premiere im Schauspielhaus ist am 5. Oktober.