Sarah Kuttner Foto: Erik Weiß

Sarah Kuttner moderiert, veröffentlichte Kolumnen in der „Süddeutschen Zeitung“ und posierte für den „Playboy“. Im Stuttgarter Wizemann hat sie aus ihrem dritten Roman, „180 Grad Meer“, vorgelesen und ein wenig geplaudert.

Es gab da diese verrückte Nummer vor gut zehn Jahren, als sie noch nicht „Kuttner plus Zwei“ auf ZDF neo moderierte und noch keine Bestseller aus der Feder schüttelte. Damals lief ihr Format auf Viva, später bei MTV. In der Sendung schnitt sie sich die Fingernägel und entschied, das überschüssige Horn im Internet zu versteigern. Schließlich kauften harte Fans alles von ihren Idolen, egal ob getragene Unterhemden, benutztes Toilettenpapier oder eben abgeschnippelte Fingernägel. Ein Irrer, vermutlich mit zu hohem Bafög-Zuschuss gesegnet, erwarb das Feilgebotene für über 400 Euro. Sarah Kuttner konnte es nicht glauben. Mehr noch: Sie war entsetzt, lud den Auktionsgewinner ein und gab ihm das Geld zurück. Möglicherweise war dies der Moment, da sie den Entschluss fasste, einen Roman zu schreiben – die finanzstarken Fans waren ja vorhanden.

„180 Grad Meer“ heißt der dritte Roman Sarah Kuttners. Am Mittwoch las die Tochter des Radiomoderators und Theaterregisseurs Jürgen Kuttner im Wizemann daraus vor. Neben dem Pult der Künstlerin zierte ein Porträt die Bühne: Die Queen blickt darauf in die Kamera, der Hund auf ihrem Schoß schaut weg. Dieses Bild beschreibt Kuttner auch im Buch.

„Ich bin ja nicht die Backstreet Boys“

Zur Eröffnung knipste sie die Besucher und schickte das Foto gen Facebook. Wer allerdings für ein Bild mit der Autorin am Signierstand angereist war, wurde ruck, zuck desillusioniert: Mit Freude werde sie im Anschluss Autogramme geben, für solche Schnappschüsse sei sie indes nicht zu haben: „Ich bin ja nicht die Backstreet Boys.“

Bei derlei Sprüchen klang sie heiser, bezeichnete das selbst als „Bonnie-Tyler-Stimme“. Eine Lesereise kratzt aber wohl nicht nur an der Stimme, sondern auch an der Laune. Es handle sich in Stuttgart um die zehnte Lesung der aktuellen Tour, und ab der zehnten habe sie in der Regel keine Lust mehr: „Die Wahrscheinlichkeit, dass ich heute aufwache und denke: Yes, ich hab’ Bock zu lesen – die war sehr gering. Aber es ist passiert!“ So schlug sie ihr Werk also doch auf.

Schwere Kindheit und witzige Hundegeschichten

„180 Grad Meer“ ist nach jenem Rezept geschaffen, das dem Gusto aktueller Massen entspricht: Eine Protagonistin mit geschiedenen Eltern, schwerer Kindheit und einer Vorliebe für Achselhöhlen irrt durchs Leben. Keine Sorge ob der Achseln: Der Ekelfaktor ist im Vergleich zu jenem Charlotte Roches, die ja ebenfalls bei Viva und schließlich mit „Feuchtgebiete“ reüssierte, äußerst überschaubar.

Erzählerin Jule entflieht dem Alltag und fliegt zu ihrem Bruder nach London, wo sie von der Krebserkrankung ihres Vaters erfährt und konstatiert: „Die Information macht gar nichts mit mir.“ Erzeuger und Tochter hatten sich jahrelang gegenseitig enttäuscht. Jules Faszination für den Blick auf die pure, weder von Fähren noch Brücken verschandelte See erklärt den Titel: „Meer ist nichts wert, wenn es sich nicht zu 180 Grad vor mir erstreckt.“ Witzige Hundegeschichten lockern die Tristesse auf.

„Lustig, traurig, clever. Mit einer Sprache, die berührt“, findet die „Cosmopolitan“; der Rezensent der „Brigitte“ verkündet: „Aus der TV-Rampensau ist eine ernsthafte Bestsellerautorin geworden.“

Von Büchern und Fingernägeln

Zumindest ist die mittlerweile 37-Jährige weniger kess als einst. In der Fragerunde gibt sie sich diplomatisch. Frage: „Findest du dich selber geil?“ Antwort: „Meine Therapeutin würde sagen, dass ich mich geiler finden sollte.“ Zuvor hatte Kuttner angekündigt: „Wenn’s mir zu intim wird, lüge ich vermutlich.“ Dass die Berlinerin, die ja unter anderem als Kolumnistin der „Süddeutschen Zeitung“ und Aktmodell im „Playboy“ in Erscheinung trat, dem kommerziellen Erfolg zum Trotz keine überwältigende Romancière ist, weiß sie selbst. Etwa in puncto Performance räumt sie’s an jenem Abend auch ein: „Ich kann beim Lesen nicht ins Publikum schauen, weil ich dann immer meine Zeile verliere. Ich müsste sonst mit Geodreieck lesen wie früher in der Schule.“ Manchmal schreckt sie auch auf, schaut aufs Handy und sagt: „Entschuldigung! Flugmodus!“

Ein Polemiker zöge möglicherweise einen Vergleich zwischen dem Verkaufserfolg ihrer Bücher und jenem der eingangs erwähnten Fingernägel. Das wäre zu drastisch. Ein Abend mit Kuttner und ihrem Buch ist erträglich, bisweilen unterhaltsam und für Fans auch interessant. Dennoch sei gesagt: Man braucht nicht länger aufzuhorchen, wenn irgendwer mal wieder posaunt, „der Nerv einer Generation“ sei getroffen worden. Denn es ist dann ja doch nur der Nerv einer Generation, der Menschen angehören, die abgeschnittene Fingernägel für mehr als 400 Euro ersteigern.