Marianna Crebassa (re.) und Johanna Wokalek Foto: Walz

Drei neue Opern hat Salzburgs scheidender Intendant Alexander Pereira in Auftrag gegeben. Die erste von ihnen, „Charlotte Salomon“ des französischen Komponisten Marc-André Dalbavie (53), wurde am Montag bei den Festspielen uraufgeführt. Text und Bühne sind spannend, die Musik ist sehr schön

Salzburg – Die Stadt ist eine Puppenstube. Und eine Kulisse. Für ein Stück mit dem Titel „Leben? Oder Theater?“ gäbe es keinen besseren Ort als Salzburg. Und für ein Stück, in dem Musik, bildende Kunst und Literatur zusammenfließen, gäbe es keine passendere Kunstform als die Oper.

Die Voraussetzungen für die neue Oper von Marc-André Dalbavie hätten besser also kaum sein können. Dass sich das Publikum nach deren Uraufführung in der Felsenreitschule lange begeisterte, lag allerdings weniger an der Musik des Franzosen als an der Vorlage selbst: „Charlotte Salomon“ fußt auf der dramatisierten, bebilderten Autobiografie der jüdischen Künstlerin Charlotte Salomon, die 1917 in Berlin geboren und 1943 in Auschwitz umgebracht wurde.

Die Texte und die 1325 Guachen von Salomons Singespiel“, die sich zwischen Expressionismus und Comic bewegen, ist weit mehr als nur Zeit-Zeugnis, weit mehr als nur eine spannende, bedrückende Familiengeschichte, ja weit mehr sogar als die künstlerische Spiegelung einer Selbstfindung, die auch therapeutische Gründe hatte. Nein: „Leben? Oder Theater?“ ist vor allem deshalb interessant, weil es zeigt, aus welchen Genen, Gedanken und Geschichten sich Identität zusammensetzen kann – und dass eine einzige Kunst manchmal nicht ausreicht, um deren Vielschichtigkeit zu beschreiben.

So lebt auch die Oper „Charlotte Salomon“ vom Zusammenwirken sehr unterschiedlicher Mittel – und fügt, indem sie das Gespielte zusätzlich von einer Erzählerin begleiten lässt, noch eine weitere Ebene hinzu. So ist es für den Zuschauer durchaus anspruchsvoll, in Salzburg das mit Zeitsprüngen versetzte Spiel zu verfolgen, das der Regisseur Luc Bondy in den vielen Zimmern von Johannes Schütz’ in die Breite gezogenem Bühnen-Puppenhaus gleichzeitig stattfinden lässt, und dabei der Schauspielerin Johanna Wokalek zuzuhören, die erzählt, was Marianne Crebassa als ihre singende Doppelgängerin fühlt und darstellt. Hinzu kommen Bilder Salomons, die auf die Rückwand der Spielfläche projiziert werden, hinzu kommen die Übertitel darüber. Und hinzu kommt die Musik.

Die bereitet allerdings nicht allzu viele Probleme. Marc-André Dalbavie gehört zu der Gruppe von (vor allem französischen) Komponisten, die sich „Spektralisten“ nennen, weil aufgefächerte Klänge in ihren Werken die Basis bilden.

Das Ergebnis ist eine sehr sinnliche Musik der Klangbänder, Farbflächen und Atmosphären, die etwas Nachimpressionistisches, zuweilen auch etwas Minimalistisches, vor allem aber etwas grundsätzlich Statisches hat. Das flimmert, das flackert, das leuchtet, das ist mehr Zustand als Ereignis. Auch der Gesang fügt sich ein in das ruhende Spektrum. Die Zitate, die Dalbavie seinem Stück deutlich hörbar einflicht, beziehen sich direkt auf die Vorlage der Oper: Die historische Charlotte Salomon hat ihre Stiefmutter, eine Sängerin, bewundert und viele Schallplatten, auf der sie zu hören ist, mit sich ins Exil nach Südfrankreich genommen.

Und so hören wir die Habanera von Bizets Carmen ebenso wie den „schönen, grünen Jungfernkranz“ aus Webers „Freischütz“, „Wanderers Nachtlied“ von Schubert und Anklänge an Bach.

Dalbavies Musik ist sehr schön. Mit dem Stück macht sie allerdings nichts. Sie klingt wie aus der Ferne mit, sie fließt vorbei, sie mischt sich nicht ein. Noch problematischer ist allerdings, dass diese Klänge auch theatralisch Niemandsland sind. Und weil ihre Schönheit statisch bleibt, generieren sie oft unweigerlich Momente des allzu Pathetischen. Dann wird das Erinnerte schwülstig – vor allem bei den Liebesszenen und im Epilog des Stücks, wo schon die von Barbara Honigmann bearbeitete Textvorlage leicht kitschgefährdet ist.

Dabei brechen sich auf der Bühne Episches und Dramatisches, und Luc Bondys feine, agile Regie tut alles, um die große Geste in viele kleine zu zersplittern. Viele kurze Szenen sind zu sehen, und kein Bild gerät platt. Die Charakterfarben, welche die Musik ausspart, gibt Bondy den Bühnenmenschen mit.

Da sind die Großeltern, die, während die sich die Charlotte-Sängerin auf einem Flügel dem geliebten Gesangslehrer der Stiefmutter hingibt, mit Koffern bepackt ins Exil ziehen. Da sind die Mutter und die Großmutter, die sich, weil sie die Wirklichkeit nicht mehr aushalten, aus dem Fenster stürzen. Da ist der Großvater, den Charlotte umbringt, weil sie seinen Zynismus und vielleicht auch die Wahrheit nicht erträgt. Bondy zeigt nur, überzeichnet werden nur manchmal die Springerstiefel-Nazis. Er kommentiert aber nichts. Es gibt keine Moral. Die Geschichte soll für sich alleine wirken, und sie kann das auch.

Das gilt auch für das Ende – auch wenn es skizzenhaft bleibt. Dann finden die beiden Charlottes, die wundervoll vielgesichtig gespielte von Johanna Wokalek und die hoch empathisch, präzise und mit reichen Mezzo-Klangfarben gesungene von Marianne Crebassa, zusammen. Die Schauspielerin hat zu singen begonnen, die Sängerin zu sprechen. Ein Duett ist zu hören. Eine Identität hat sich eingestellt. Ein Kinderlied klingt nach, und schließlich hat die Oper doch noch den Widerspruch aufgelöst, den Charlotte Salomon ihrem autobiografischen Werk beigab. Das erinnerte Leben ist Theater geworden. Das ist keine geringe Leistung in der Puppenstube der Salzburger Festspiele.

Nochmals am 2., 7., 10. und 14. August. Mehr: www.salzburgerfestspiele.at