Simone Schneider als Salome und Matthias Klink als Herodes Foto: A.T. Schaefer

Weiß Salomé, was sie tut, als sie den Kopf des von ihr geliebten Johannes fordert? In der Oper Stuttgart wird diese Frage neu gestellt – mit radikalen Zeitbezügen.

Stuttgart - Eine hermetische Welt, ein Hochsicherheitstrakt: das Heim des Herrschers Herodes, der sich gegen sein eigenes Volk abschotten muss. Wie Assad in Syrien oder andere Diktatoren der arabischen Welt. Das Haus voller Sicherheitspersonal: in schwarzen Anzügen mit Knopf im Ohr. Keine Fenster in diesem Bunker. Betonwände, weiße Ledersofas, Metallstühle. Und das Schlafgemach, das über dem foyerartigen Zentrum des Hauses thront, ist verglast und damit einsehbar. So sieht man dort die Gattin sich zuweilen mit knackigen Kerlen verlustieren. Selbst der Mond, der zu Beginn besungen wird, klebt bloß als illuminierter riesiger Stahlreif im Bühnenbild von Pierre Jorge Gonzalez.

Terrorbilder auf Großleinwand

Die Außenwelt dringt nur über Videoleinwand ins unheimliche Heim des ängstlichen Diktators. Bilder, die wir allzu gut kennen und gegen die wir langsam abstumpfen: Dauerinfosendungen, die von Straßenkampfszenen zu Massakern, von Bombardierungen zu Strömen flüchtender Menschen zappen. Immer wieder schaltet der Übertragungsmodus um aufs Raster der Überwachungskameras, die jede Ecke der Herodes-Villa ausspähen und auch auf das Gelage des Hausherrn zoomen.

In dieser angstschürenden, triebhaften, lieblos-kalten Atmosphäre lässt der russische Regisseur Kirill Serebrennikov Herodes’ Stieftochter Salome aufwachsen, jene grausame junge Frau, die sich in der Bibel das Haupt des Bußpredigers Johannes des Täufers auf dem Tablett servieren lässt und die Oscar Wilde 1896 in seinem gleichnamigen Fin-de-Siècle-Drama in die sexuell aufgeladene Schwüle der Decadence verpflanzte. Wilde lieferte so Richard Strauss eine treffliche Vorlage für dessen Musikdrama von 1905.

Salome als trotziger Teenager

In Stuttgart ist Salome keine verführerische, laszive Schönheit, sondern ein trotziger, trampeliger Teenager in Dr.-Martens-Stiefeln und schwarzem Kapuzenpulli: verloren, verwirrt, allein gelassen. Ein Missbrauchsopfer ihres Stiefvaters, angewidert von dem verlogenen Miteinander der Eltern und deren ausschweifendem westlich-dekadentem Leben verfängt sie sich mehr und mehr in ihren Träumen vom schönen, jungen, durch Kamerabilder omnipräsenten Propheten Johannes, den Herodes als Geisel im Hause eingekerkert hat – fasziniert von dessen inbrünstigen Weltuntergangsprophetien, die den Palast regelmäßig durchhallen.

Serebrennikov stellt dem Propheten ein Double zur Seite: Im Kerker sitzt ein junger Araber in der Gestalt des Schauspielers Yasin El Harrouk: verzweifelt, angsterfüllt, gelegentlich arabisch skandierend, meist stumm. Jedenfalls die Liebe Salomes heftig verachtend und vom Sicherheitspersonal gedemütigt. Die zur Schau gestellte Entblößung des Mannes vor Salome und Scheinhinrichtungen mahnen an jüngste Siegerverbrechen. So verbindet sich die durch Sexualität durchdrungene Gewalt-Komponente des Stücks mit Motiven unserer Zeit. Von der Köpfung des Johannes zu Enthauptungen vor laufender Kamera, die fester Bestandteil dschihadistischer Psycho-Kriegsführung geworden sind, ist der assoziative Weg ohnehin nicht weit.

Jeder Ton verkündet Unheil

Gesungen wird Johannes aber von Iain Paterson, der als vitaler Bärtiger seine messianischen Endzeiterwartungen mit körperhafter, weittragender Fülle in die Kamera deklamiert, mal auf der Bühne, mal per Video erscheinend: nicht Jesus-Anhänger, sondern Stellvertreter aller Weltreligionen. Es geht hier um das globale Missverstehen zwischen den Kulturen.

Es ist die Qualität der Inszenierung, dass sie sich eng verknüpft mit der Musik und ihrer emotionalen Dichte, in der fast jeder Ton Unheil verkündet. Das Staatsorchester in der Leitung Roland Kluttigs liefert mit seinem von Anfang an in Bann ziehenden Hörsog den Soundtrack zu einem Psychodrama. Es ist fantastisch, was da farbig und bei aller Klangmacht immer transparent aus dem Orchestergraben dringt: sich fiebrig in hitzig aufgeladenen Kanonaden entlädt, irr, zeternd, hysterisch, gefährlich sirrend und flüsternd, nervös pulsierend. Hervorragend setzt sich das Ensemble an diesem Abend in Szene – bis in die vielen Nebenrollen. Sopran Simone Schneider als Salome ist eine Idealbesetzung, singt mit perfekt zielender Wahnsinnshöhe und schön dunklem tiefem Register, mit einem riesigen Spektrum an emotionalen Farben, mit denen sie auch die unruhige Harmonik fein ausleuchtet. Auch Mezzosopran Claudia Mahnke als blonde Herodes-Gattin bewältigt die Höhen sicher und setzt die gelegentlich geforderte schwierige Gratwanderung zwischen Gesang und Sprechen gut um.

Das Premieren-Publikum ist begeistert

Gergely Németi als verklemmter Sicherheitsdienstchef Narraboth überzeugt mit geschmeidig geführter, trotz dramatischer Anteile ausgeglichener Tenorstimme. Und Tenor Matthias Klink als Herodes ist geradezu überwältigend: mit klar konturierendem, schön metallig gefärbtem Organ verleiht er Herodes nicht nur stimmlich ein scharfes Profil, das auch ein merkwürdig kindlich-erotisches Verlangen umfasst. Letzteres entlädt sich im „Tanz der Schleier“, der an diesem Abend ungetanzt bleibt: Salome erscheint als liebesbedürftige Lillifee – und das entfesselt im Kopf des Herodes Fantasien, die geradewegs in den Gattinnenmord führen.

Aber bevor Herodes stattdessen Salome erschießen lässt, muss er erst noch Johannes opfern. Zu schwach ist er, um sich dem trotzigen Rachewunsch der Tochter zu widersetzen. So fällt das Wachpersonal über den armen Moslem her und schneidet ihm in einem unerträglich langwierigen Prozess den Kopf ab – was per Video übertragen wird. Alles Gegenwart. Auch, dass Salome das dargebrachte blutige Haupt zunächst gar nicht beachtet, sondern sich in ihrem ekstatischen Liebes- und Lusttaumel an das gefilmte Abbild auf dem Monitor wendet. Und sich wundert, nicht begreift: „Warum blickst du jetzt so tot?“ Es sind ja nur Bilder, losgelöst vom Gefühl. Kann sie ermessen, was sie getan hat? Ist ihre Herzlosigkeit der digitalen Welt geschuldet? Das Publikum jubelt am Ende frenetisch – bevor es in seine eigene, aus dem Lot geratene Welt entlassen wird.