Wie Spuren des internationalen Netzwerks auch in den Südwesten führen: Die Moschee in Stuttgart-Botnang – Mitglieder der von Salafisten dominierten Einrichtung sollen die Terrormiliz Islamischer Staat unterstützen Foto: SRF

Die Informationen auf dem Laptop Scheich Anwar Sha’bars führen aus dem Jahr 1995 ins Jahr 2015. Vom Balkan nach Baden-Württemberg. Sie ermöglichen einen Einblick in ein über 20 Jahre geknüpftes Netzwerk, in den schwäbischen Dschihad.

Stuttgart - Der Scheich starb unvorbereitet und schnell. Kugeln streckten Anwar Sha’bar in seinem beigefarbenen Toyota-Geländewagen im bosnischen Zepce nieder. Das Funkgerät noch in der Hand, mit dem er seine Begleiter vor einem Checkpoint warnen wollte, den kroatische Soldaten aufgebaut hatten. Blutüberströmt sackte der Gelehrte auf der Rückbank des Geländewagens mit dem Kennzeichen SA-2142-AA zusammen – über seinem Laptop.

Auf dessen Festplatte hatte der oberste Kommandeur der in den 1990er Jahren auf dem Balkan kämpfenden Gotteskrieger alles gespeichert, was in Sachen weltweiter Terrorismus bis zu diesem 14. Dezember 1995 zusammenzutragen war: Befehle, Briefe, Notizen, Listen, Videos. Sogar die Briefe und E-Mails, die er mit dem damaligen El-Kaida-Chef Osama bin Laden und dessen Adjutanten austauschte – der Ägypter sammelte alles penibel auf dem Datenspeicher, der dem Rechercheverbund vorliegt, den die Stuttgarter Nachrichten mit dem Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) gebildet haben.

Brisant: Die Informationen auf dem Laptop Scheich Anwar Sha’bars führen aus der Vergangenheit ins Heute. Aus dem Jahr 1995 ins Jahr 2015. Vom Balkan nach Baden-Württemberg. Sie ermöglichen einen Einblick in ein über 20 Jahre geknüpftes Netzwerk, in den schwäbischen Dschihad.

Kämpfern in Tarnuniformen und mit Gewehr

Ein Video auf dem Notebook zeigt den Besuch des damaligen bosnischen Staatspräsidenten Alija Izetbegovic bei der 7. Mudschaheddin-Brigade im zentralbosnischen Zenica. In dem professionell gedrehten Streifen schreitet der Staatsmann an Kämpfern in Tarnuniformen und mit präsentiertem Gewehr vorbei. Bei einem Krieger in grünem T-Shirt bleibt er stehen, schüttelt seine Hand und spricht mit ihm. Dann geht Izetbegovic schnell weiter.

Der sogenannte Gotteskrieger hat adrett geschnittene schwarze Haare, einen gepflegten Bart, der bis auf seine Brust reicht. In die schwarze Kinnpracht haben sich ebenso wie in seine Haare in den vergangenen 20 Jahren weiße gemischt. Ansonsten ist Reda Seyam immer noch der, der auf dem Balkan kämpfte – angeblich für Allah und das Paradies.

Ein weiteres Video zeigt den Deutsch-Ägypter, der heute als „Abu Zulqarnayn“ die „Bildungspolitik“ der Terrororganisation Islamischer Staat verantwortet. Das Video auf dem Laptop Anwar Sha’bars wurde am 11. Oktober 1994 aufgenommen: ein neuer Besuch Izetbegovics bei seinen islamistischen Elitesöldnern in Zenica.

Der Präsident sitzt an einem gezimmerten Tisch im Wald. Er bittet Reda Seyam zu sich, unterhält sich lebhaft mit dem Deutschen, der lange Zeit in Ulm lebte. Zwischen Izetbegovic und dem Dschihadisten: Abdel Kadeer Moktari Abou Mali – bin Ladens Europabeauftragter.

Videosequenzen zeigen die Enthauptung serbischer Kriegsgefangener

Weitere Videosequenzen zeigen Reda Seyam in weniger harmonischer Runde: Am 24. Juli 1995 wirkt er angespannt, als er die Enthauptung serbischer Kriegsgefangener im Internierungslager Kamenica filmt.

Kampflieder in Arabisch begleiten die Szenen: Mudschaheddin zerschneiden den Gefangenen die Handfesseln, drücken ihnen Schaufeln in die Hände und schlagen sie, damit die abgemagerten Männer ihre Gräber ausheben. Dann zücken die Bärtigen kleine Äxte, die sie eigens für solche Zwecke immer mit sich führten. Sekunden später purzeln kopflose Körper in die Gruben. Genau eine solche Axt schärft Seyam in einem anderen Video und lächelt freundlich.

Reda Seyam kennt alle, die im Schwabenland von einem Gottesstaat träumen. Einem Kalifat vom Hindukusch bis zum Atlas, von den Alpen bis zur Zentralafrikanischen Schwelle.

Rustempasic plante Anschläge gegen katholische Einrichtungen

Da ist der in Ulm lebende Edis S.. Den 38-Jährigen verdächtigt der oberste bosnische Staatsanwalt, eine El Kaida zugerechnete Terrorgruppe mit Waffen und militärischer Ausrüstung versorgt zu haben.

Als Spezialeinheiten im November 2009 in einem Vorort Sarajewos ein Haus stürmten, fanden sie den früheren Mudschahed Rijad Rustempasic in eindeutigen Pose vor. Der kriegserfahrene Salafi ließ genau in dem Moment ein Bekennervideo aufzeichnen, als Elitepolizisten ihre Blendgranaten zündeten.

Die Fahnder stellten Dokumente und Videos sicher, die belegen, dass Rustempasic Anschläge gegen katholische Einrichtungen und diplomatische Vertretungen in Bosnien plante. Abgehörte Telefongespräche und sichergestellte Unterlagen belegen zudem, dass Edis S. für die Terrorgruppe in Deutschland Nachtsichtgeräte und Uniformen besorgte und via Transitbus über Wien nach Bosnien lieferte.

Dass Edis S. heute noch Veranstaltungen besuchen kann, in denen offen Kriegswillige für den Islamischen Staat geworben werden, hat für bosnische Geheimdienstler und Fahnder nur eine Erklärung: „Er ist Informant westlicher Dienste. Sonst wäre unserem Auslieferungsersuchen längst stattgegeben worden, um das wir uns seit Jahren beim deutschen Justizministerium bemühen.“

Der Ulmer ist interessant für bosnische Ermittler

Weil Edis S. und Reda Seyam einen weiteren gemeinsamen Bekannten in Bosnien haben, ist der Ulmer interessant für bosnische Ermittler. Sie sind bestens mit Enes Causevic befreundet. Dessen Bruder Haris zündete am 27. Juni 2010 vor der Polizeistation im bosnischen Bugojno eine 15 Kilo schwere Bombe. Ein Beamter starb, sechs weitere wurden schwer verletzt. Während seiner Flucht warf der Bombenleger drei Handgranaten auf seine Verfolger.

Der Attentäter wurde dennoch überwältigt. Gleich in seiner ersten Vernehmung plauderte der Terrorist über seine Mittäter, gestand seine Mitgliedschaft in Rustempasics Terrorgruppe und erzählte den Fahndern auch, dass sein Bruder Enes immer wieder im Stuttgarter Stadtteil Botnang in der „Medschid Sahabe“ als Prediger auftrete.

Bei Gottesdiensten in Bosnien belehrte Causevic unlängst die Gläubigen, dass der Dschihad nicht nur in Großsyrien, in al-Sham, geführt werden müsse. „Der Kampf gegen die Ungläubigen ist heilige Pflicht jedes Muslimen, wo er geht, steht und atmet“, ist sich Causevic sicher.

Er hat sein Netz über Baden-Württemberg geworfen

Er hat sein Netz über Baden-Württemberg geworfen. Die Frau seines in Augsburg lebenden Bruders stammt aus Pforzheim. Sie hat in ihrer bayrischen Heimat eine Frauengruppe aufgebaut, die intensive Beziehungen zu vermeintlichen Hilfsorganisationen hält. Die sind nicht nur dafür bekannt, Krankenwagen in die Kriegsgebiete des Mittleren Ostens zu überführen, die dort als Transportfahrzeuge für Kämpfer missbraucht werden.

Oft werden aus den die Ambulanzen fahrenden „Entwicklungshelfern“ Krieger in den Kampfverbänden des IS und des El-Kaida-Ablegers Jabhat al-Nusra. So transportierte auch der Schweizer Dschihadist Alperen A. im August 2014 Krankentransporter aus Lörrach nach Syrien. Einen Monat später reiste er zusammen mit dem Hamburger Ehepaar Stefano und Sewil C. sowie der jungen Konstanzerin Kosovare I. ins Kriegsgebiet, um sich der al-Nusra anzuschließen.

Bei Causevics Schwager Amel B. durchsuchte die Polizei im März in Pforzheim Wohnung und Arbeitsplatz. Ihn verdächtigen die Ermittler, eine schwere, staatsgefährdende Gewalttat vorzubereiten. B.s Pforzheimer Freund Munir Ibrahim setzte sich vor zwei Jahren nach Syrien ab und tötet heute für den IS.

Enes Causevic dirigierte am 31. Mai 2011 den bosnischen Prediger Bilal Bosnic zum Vortrag in die Stuttgarter Regerstraße. Der charismatische bosnische Prediger weiß aus eigener Erfahrung, wovon er seinen Anhängern erzählt: Er gehörte während des Bosnien-Kriegs zu einer Spezialeinheit der 7. Mudschaheddin-Brigade im zentralbosnischen Zenica. Zu dem Verband, in dem auch Reda Seyam diente.

„Das Jüngste Gericht wird nicht kommen, bevor nicht der Islam in jedes Haus eingetreten ist"

Heute bereitet Bosnic dem himmlischen Paradies den Weg: „Das Jüngste Gericht wird nicht kommen, bevor nicht der Islam in jedes Haus eingetreten ist, so wie der Tag und die Nacht eintreten. Das sind, Brüder und Schwestern, die Worte unseres Propheten.“ Bosniens Chefankläger verdächtigen den vermeintlich frommen Mann, Dutzende junge Männer aus Westeuropa und vom Balkan nach Afghanistan und Syrien in den Dschihad geschleust zu haben.

Unter ihnen auch Elvis Hajric aus Ditzingen und Enver Parmenkovic aus Schwieberdingen. Beide gehörten zu den Besuchern der Moschee in der Regerstraße. Parmenkovic war sogar der stellvertretende Vorsitzende des Moscheevereins „Islamisches Bildungs- und Kulturzentrum Mesdschid Sahabe“ in der Regerstraße.

Ganz so, wie es Scheich Anwar Sha’bar vor 20 Jahren in einer E-Mail an Bilal Bosnic plante: „Deine Aufgabe, ehrenwerter Bruder, ist es, den Dschihad mitten unter die Ungläubigen zu tragen und sie zu vernichten.“ Verfasst hatte der Gelehrte sie zwei Tage bevor er im Kugelhagel kroatischer Soldaten an einem Checkpoint in Bosnien starb – und seinen Laptop unter sich begrub.