Der Einstieg der neuen S-Bahnen liegt deutlich höher als bei den alten Foto: Leif Piechowski

Insgesamt 87 neue S-Bahn-Züge der Baureihe 430 sollten seit Juli 2013 in der Region Stuttgart unterwegs sein. Der Verband Region Stuttgart hatte damals die „modernste S-Bahn-Flotte Deutschlands“ angekündigt. Geliefert wurden aber Pannenzüge. Nun stellt sich heraus, dass ihr Einstieg zu hoch liegt.

Stuttgart - Der für den S-Bahn-Verkehr zuständige Verband Region Stuttgart (VRS) und die DB Regio AG versuchen zurzeit im zweiten Anlauf, die 87 neuen Züge des Herstellers Bombardier auf die Gleise zu bringen. Die insgesamt rund 470 Millionen Euro teuren Fahrzeuge der Baureihe 430 seien „bundesweit Vorreiter bei den Standards für mobilitätseingeschränkte Fahrgäste“, lobt die Bahn die Anschaffung. Dafür sollte der neue Schiebetritt sorgen – ein geriffeltes Alublech, das beim Halt unter jeder Tür herausfährt und den Spalt zwischen Zug und Bahnsteig minimiert.

Objektiv betrachtet ist das Gegenteil der Bahn-Versprechungen der Fall. Alle Schiebetritte sind, weil sie nicht funktionierten, bis Ende 2016 abgeschaltet. Die neuen Züge erweisen sich nun als Stolperfalle, der Einstieg wird zum Beispiel für Rollstuhlfahrer zum nahezu unüberwindbaren Hindernis. Das ist so, weil alle Einstiege der neuen Baureihe 9,5 Zentimeter über dem Bahnsteig liegen. Das sind genau sechs Zentimeter mehr als beim weiter eingesetzten Vorgänger (Baureihe 423) oder bald ausgemusterten Vorvorgänger (420).

Wolfgang Schwenk ist trotz seiner durch Kinderlähmung erlittenen Spätschäden viel unterwegs. Der Pensionär aus Schorndorf bewegt sich mit seinem elektrounterstützten Rollstuhl sicher. „Ich bin seit elf Jahren in der Rollstuhl-Sportgruppe, ich kann den Rolli aufkippen“, sagt Schwenk. Die höhere Schwelle der neuen Züge konnte er trotz seiner Routine aber nicht überwinden. In Bad Cannstatt, wo der Bahnsteig wie fast überall in Stuttgart 96 Zentimeter über den Gleisen liegt, mussten ihn Fahrgäste in den Zug hieven. „Wenn schon ich Probleme habe, dann sind die bei Menschen mit Rollator oder Rollstühlen ohne Elektrounterstützung mit Sicherheit noch erheblich größer“, sagt Schwenk. Seine Bilanz fällt wenig gnädig aus: „Keine Spur von Barrierefreiheit. Diese Wagen müssen schleunigst an den Hersteller zurückgegeben werden.“

Bei der städtischen Behindertenbeauftragten Ursula Marx sind Klagen über die neuen Züge aufgelaufen. „Für Rollstuhlfahrer wird es ganz schwierig, die kommen allein nicht hoch“, weiß die frühere Stadträtin. Der „erschwerte Einstieg“ werde „sehr wahrgenommen“. Für Marx stellt sich die Frage, wie der Verband Region Stuttgart (VRS) die höher gesetzte Schwelle überhaupt zulassen konnte: „Was war das für eine Ausschreibung?“ Die Züge nun zwei Jahre fahren zu lassen, obwohl der Schiebetritt nicht funktioniere, findet Marx „nicht akzeptabel“. Dass der VRS weitere zehn Züge für rund 80 Millionen Euro bestellen will, kann Marx gar nicht nachvollziehen: „Wie kann man von dem Schrott noch mehr kaufen?“

Die Barrierefreiheit sei mit den neuen Zügen „in weite Ferne gerückt“, sagt der Grünen-Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel aus Filderstadt. Er hat sich an den VRS und die Bahn gewandt. Sollte das Alublech ab 2017 funktionieren, würde sich ein weiteres Problem verschärfen. Die Tritte brauchen Zeit, um auszufahren. Die S-Bahn ist aber schon heute oft genug aus dem Takt. Im Juli wurde erneut nur ein Pünktlichkeitswert von 86,9 Prozent, also weit unter den Vorgaben, erreicht. Eine mit dem S-Bahn-System vertraute Person bestätigte unserer Zeitung Gastels Befürchtung. „Der Tritt darf nur an bestimmten Halten raus, sonst geht zu viel Zeit verloren“, sagt die Person, die namentlich nicht genannt werden will.

Für den Verband Region Stuttgart weist Verkehrsdirektor Jürgen Wurmthaler jede Verantwortung für die Misere zurück. Ein ebenerdiger Einstieg sei im Bahnverkehr „nicht zu erreichen“, sagt er. Der nun neu zu entwickelnde Schiebetritt sei ein „etwas erhöhter Einbaukasten im Einstiegsbereich“. Um wie viel erhöht, wisse er nicht.

Durch den Einbau sei der neue Zug auch im Innenraum an der Tür „natürlich nicht eben wie im 423er“. Der Zug sei vom Eisenbahnbundesamt zugelassen und von der Bahn abgenommen. Der Verband habe in seiner Ausschreibung eine Spaltüberbrückung verlangt. „Der Höhenversprung war kein Thema“, sagt Wurmthaler.

An Halten mit niedrigen Bahnsteigen mache die Bahn mit einer Durchsage auf das Problem aufmerksam, sagt ein DB-Sprecher. Der Fahrzeugführer habe für Behinderte eine Rampe dabei, die er an die Tür legen könne. Es sei nun Sache des Herstellers, „den Tritt zum Laufen zu bringen“. Dass der Einstieg mit der Nachbesserung niedriger gelegt wird, scheint aber unmöglich. Das würde einen Eingriff in die Grundkonstruktion und „tragende Teile“ erfordern.

Ein „Versenken“ des Schiebetritts in den Fußboden im Einstiegsbereich sei „technisch nicht möglich“, heißt es beim Hersteller Bombardier. Daher habe die Bodenhöhe über der Schienenoberkante vergrößert werden müssen. Man habe sie aber „auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt, um den Fahrgästen dennoch eine komfortable Einstiegssituation zu ermöglichen“.