Szene aus „Accattone“ mit Steven Scharf in der Maschinenhalle Lohberg in Dinslaken Foto: Julian Röder

Hosen in Schaufenstern, Pasolini in der Dämmerung und „Die Franzosen“ in einer Jugendstilhalle: Noch bis 26. September wird der Kohlenpott bei der Ruhrtriennale zum Gesamtkunstwerk.

Stuttgart - Mit leerstehenden Läden und stillgelegten Kohlenmischhallen erschließt der künstlerische Leiter Johan Simons bei seiner ersten Ruhrtriennale neue Spielorte.

Bochum I

Gegen König Fußball hat die Kunst keine Chance. Sonntagmittag in Bochum. Praktisch, dass das von Thorsten Schoth gestaltete Schaufenster direkt neben einer Haltestelle liegt. Als zwei Damen mit ihren Söhnen und einem Hund die Schaufensterfront frei gemacht haben, schaut man auf weiße Vorhänge und Fragmente von Männergipsoberkörpern auf dem Boden. Eine Interpretation des Höllentors, wie auf der Homepage der Ruhrtriennale zu lesen ist. Tatsächlich ist die Bochumer Fußgängerzone zumindest architektonisch eine ähnliche Hölle wie in vielen anderen deutschen Städten auch. Schnell weg. Am besten mit dem Bus 345 zur Jahrhunderthalle. Es sind an dem sonnigen Tag aber auch noch andere Leute unterwegs. Fußballfans (VfL Bochum gegen 1. FC Nürnberg) zum Beispiel. Nach wenigen Metern wird der Bus von einem Polizisten gestoppt. „Da sind welche eingekesselt. Anhänger haben sich zusammengerottet und brüllen. Keine Ahnung, was die wollen und wie lange das dauert.“ Der Busfahrer telefoniert mit der Zentrale, darf eine andere Route nehmen. Da und dort sieht man dann ein paar Fans mit blau-weißen Schals herumirren. Den Weg ins Stadion werden sie wohl noch finden. Nicht aber den Weg nach Gladbeck, wo sie nach dem 2:1-Sieg noch einen viereinhalbstündiges Stück anschauen könnten (jedenfalls hat man da keine gesehen). Doch Johan Simons arbeitet daran, im Gespräch mit dieser Zeitung sagte er, er wolle Kunst nicht nur für Kulturbürger machen.

Bochum II

Immer noch rechtzeitig angekommen: Auf einem Förderturm weht die Ruhrtriennale-Fahne „Seid umschlungen“. Ein Ehepaar schiebt Fahrräder in Richtung Jahrhunderthalle, unterhält sich über Freundin Gitte, die 60-jährige Schauspielerin, die krank und jetzt auch noch arbeitslos ist. Bürgermeister und Medien hatten mangelnde Bürgernähe beklagt, wenn aber bei schönstem Freibadwetter fast hundert Leute kommen, um sich durch einen Installationspark wie „The Good, the Bad and the Ugly“ des Atelier Van Lieshout führen zu lassen, muss man sich um die Publikumswirksamkeit der Ruhrtriennale nicht allzu sehr sorgen. Ausgestellt ist etwa die „Bar rektum“, Kunststoff-Nachbildung eines menschlichen Verdauungstrakts (war schon im Folkwangmuseum Essen zu sehen). In dessen Inneren kann man sich auf großen Kissen ausruhen. Die Toilettenanlage, Landschaft aus rostigen Tonnen, ist sogar benutzbar. Ansonsten viel bekannt Symbolhaftes zum Thema „Wie wollen wir leben?“, autarke Lebensentwurf-Utopien. Neu gebaut wurde eine Holzscheune. Hier finden Lesungen, Workshops, Partys statt, man kann aber auch nur herumsitzen und Lavendelkuchen essen.

Dinslaken

Oder an der Theke Wasser bestellen, wie Johan Simons. Der Ruhrtriennalechef, der bis vor kurzem noch die Münchner Kammerspiele geleitet hat, sieht weniger müde aus als er sein dürfte. Er wird in der Halle Wagners „Rheingold“ inszenieren. Premiere ist am 12. September. Und am Vorabend hatte er nach einer Vorstellung seiner Inszenierung „Accattone“ das Publikum in „Johans Saloon“ eingeladen. In Dinslaken war das, ehemalige Zeche Lohberg. An rekultivierte Zechen mangelt es im Ruhrgebiet nicht. Nun ist mit der Zeche Lohberg, die bis 2005 in Dienst war, noch ein Kulturort dazugekommen. An Schrebergärten grenzt die neue Rasenfläche an, eingefasst von einer Reihe weißer Steine. Hervorragende Position, die paradierenden Besucher zu betrachten. Laufsteg für Hornbrillenträger. Ein Paar (Leinenanzug, Strohhut) ist mit Picknickkorb angerückt, ergattert einen Liegestuhl, trinkt Rotwein und zupft mit den Zehen Gras. Für diese Art Dolce Vita hätten Accattone (Steven Scharf) und die Seinen nur Häme übrig. Zu Außenseitern gemacht, pfeifen die Figuren aus Pasolinis „Accattone“ auf die Gesellschaft. Mit einer Theaterversion des Films das Festival zu eröffnen – auch eine Art Kommentar auf die hohe Arbeitslosigkeit im Revier. Johan Simons hat in der Kohlenmischhalle einen imposanten Spielort gefunden. Die zweihundertzehn Meter lange Halle öffnet den Blick auf wild wucherndes Grün, das im ehemaligen Feinstaub-Hotspot Europas inzwischen das Landschaftsbild dominiert. In der Dämmerung wird die Schauspielerin Anna Drexler in einem weißen Kleid wie ein Zauberwesen auftauchen, sich irrwischartig hüpfend, springend der Halle nähern. Stella, ein Stern. Eine Frau, die sich anders als Maddalena (Sandra Hüller) von Accattone nicht zum Anschaffen schicken lässt. Musik und Gesang des hervorragenden Orchesters und Chors Collegium Vocale Gent und das Schauspiel gehen nicht immer eine Bindung ein, doch der Abend ist getragen von der Langsamkeit der Bach-Kantaten. „Ich elender Mensch“, „Wir zittern und wanken“ – taumelnde Gestalten in der Tiefe des Raums. Simons gelingen existenziell traurige Bilder, die größer sind als Kino.

Gladbeck

Elegie auch in der Zeche Zweckel in Gladbeck, längst nur noch als Veranstaltungsort genutzt. In der 1909 errichteten Maschinenhalle wird eine Theaterversion von Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gespielt. „Die Franzosen“ – eine europäische Recherche: französischer Klassiker auf Polnisch gesprochen, Deutsch und Englisch übertitelt. Viele blasierte Posen, schöne Frauen, die elegant die Beine übereinanderschlagen, ein alternder Salonlöwe mit Karl-Lagerfeld-Zopf. Doch wirklich aufregend an diesem Viereinhalbstunden-Abend ist nur der Bau in seiner verschrappten Jugendstilpracht. Er zeugt von verlorener Zeit dramatischer als das Theater. Regisseur Krzysztof Warlikowski konzentriert sich aufs Plakative, sexuelle Wirrnisse von Baron de Charlus, Morel, Albertine und Co. Man sieht aufdringlich wirkende Biologienachhilfe (Video-Einspieler von Seepferdchen mit trächtigen Männchen), die einhergeht mit Eifersuchtsszenen auf Kleinstadttheaterniveau und Brachial-Europakritik.

Duisburg

Nach so viel Theaterstaub raus, gen Südwesten. Auch in Duisburg lenken junge Künstler den Blick auf die wirtschaftliche Misere im Ruhrgebiet und bespielen Schaufenster. Auf der Suche nach im Fenster hängenden Jacken und Hosen (Philipp Reitsam) richtet sich der Blick auch auf andere Schaufenster. Tanzcafé, und die Kneipe Endstation. Eine Wuchtbrumme sitzt im Treppenaufgang in roter und schwarzer Spitzenleggins, eine Figur wie aus „Accattone“. Ruhrpott eben, ein Gesamtkunstwerk.