Rüdiger Grube im Interview: Der Bahnchef setzt jetzt auf den guten Willen aller Beteiligten.

Stuttgart - Bahn-Chef Rüdiger Grube schlägt einen Kompromiss vor: Die Bauarbeiten und Vergaben für Stuttgart 21 könnten bis zum 15. Juli und dem Stresstest ruhen. Dafür müsste die Stadt auf 33 Millionen Euro verzichten. Außerdem würde S21 ein Jahr später fertig. Grube setzt jetzt auf den guten Willen aller Beteiligten.

Herr Grube, am Montag läuft die Frist der Deutschen Bahn bei Stuttgart21 ab. Heißt das, am Montag wird wieder gebaut?

Ja. Es sei denn . . .

. . . es sei denn . . .

. . . die Projektpartner folgen meiner Initiative und kommen an diesem Montag in Stuttgart zu einer außerordentlichen Sitzung des Lenkungskreises zusammen.

Wo sehen Sie noch Verhandlungsspielraum in dieser verfahrenen Situation?

Der Vorstand der Deutschen Bahn AG hat in der Tat nur noch einen relativ kleinen Handlungsspielraum, da wir dem Aktiengesetz unterliegen und verpflichtet sind, Schaden vom Unternehmen fernzuhalten.

Und solche Schäden gibt es bereits?

Wir haben seit dem vorigen Herbst dreimal unseren guten Willen gezeigt, den Konflikt um Stuttgart21 zu versachlichen und die angespannte Lage zu deeskalieren: Das war bei der Schlichtung Ende vorigen Jahres der Fall, das war bei der Akzeptanz der Schlichtungsergebnisse der Fall und bei der Zusage nach der Landtagswahl am 27.März, bis zum Amtsantritt von Ministerpräsident Winfried Kretschmann am 12.Mai keine weiteren Fakten zu schaffen. Der intensive Diskussionsprozess und die mehrmaligen Verzögerungen haben hohe Kosten verursacht, die wir bisher einseitig übernommen haben. Man kann uns wirklich nicht nachsagen, dass wir uns nicht nach Kräften bemüht hätten, den Konflikt zu entschärfen.

Und jetzt soll damit Schluss sein?

Wir werden weiterhin Lösungen suchen und gewiss kein Öl ins Feuer gießen. Allerdings ist jetzt der Punkt gekommen, an dem wir keinen Spielraum mehr haben: Spätestens am 15.Juli müssen die Bauarbeiten für den Fildertunnel und den Tunnel nach Ober- und Untertürkheim vergeben werden; das sind Bauleistungen im Gesamtvolumen von 750 Millionen Euro. Wenn wir diesen Termin nicht erreichen, müssten wir die europäische Ausschreibung komplett wiederholen, allein das kostet rund 18 Monate.

Die grün-rote Landesregierung plant im Oktober eine Volksabstimmung über die finanzielle Beteiligung des Landes an S21. Was heißt das für Ihren Zeitplan?

Das würde ein halbes Jahr kosten. Durch die gesetzlichen Vorgaben für Baumaßnahmen im Bahnbetrieb verschärft sich das Problem aber noch. Alles in allem reden wir von einer Verzögerung von drei Jahren und Mehrkosten von 410 Millionen Euro.

Seite 2: Rüdiger Grube über den Stresstest

Wie wollen Sie diesen Zwängen entgehen?

Ich stehe im direkten Kontakt mit Ministerpräsident Kretschmann und werde ihm mehrere Punkte vorschlagen. Erster Punkt ist die kurzfristig angesetzte Sitzung des Lenkungskreises. Zweiter Punkt: Die Deutsche Bahn und das unabhängige Gutachterbüro SMA aus der Schweiz bemühen sich, den voriges Jahr in der Schlichtung vereinbarten Stresstest etwas zu beschleunigen, so dass wir die Ergebnisse noch vor dem 15.Juli der Öffentlichkeit vorstellen können.

Im Kern des Stresstests muss die Bahn mittels Computersimulation nachweisen, dass der S-21-Tiefbahnhof 30 Prozent mehr leistet als der heutige Kopfbahnhof. Winfried Hermann, Landesverkehrsminister der Grünen, wünscht am Ende des Tests eine Veranstaltung nach Muster der Schlichtung.

Damit sind wir einverstanden.

Wird Heiner Geißler erneut Schlichter?

Das weiß ich nicht, das ist ja nicht nur meine Entscheidung. Ich stehe aber in Kontakt mit Heiner Geißler.

Was gehört sonst noch zu Ihrem Krisenmanagement?

Da kommen wir zu einem sehr wichtigen Punkt: Wenn wir Vergaben und Bauarbeiten nämlich tatsächlich bis Mitte Juli verzögern, werden wir - weil die neue Eisenbahninfrastruktur nur zum Fahrplanwechsel am Ende eines Jahres in Betrieb gehen kann - voraussichtlich ein volles Jahr verlieren. Das heißt, Stuttgart21 würde nicht wie geplant Ende 2019, sondern Ende 2020 in Betrieb gehen. Das hätte unter anderem zur Folge, dass wir der Stadt Stuttgart 33 Millionen Euro für die verzögerte Überlassung alter Bahnflächen zahlen müssten.

Und das wollen Sie nicht.

Noch einmal: Das können und dürfen wir nicht. Das erlaubt das Aktienrecht nicht. Hier müsste die Stadt einen Beitrag leisten.

Warum sollte die Stadt auf 33 Millionen Euro verzichten, die ihr vertraglich zustehen?

Das muss diskutiert werden. Ich kann nur daran erinnern, dass die Deutsche Bahn bereits erhebliche Kosten einseitig geschultert hat. Wir sind am Anschlag.

Über die Summe muss der Gemeinderat entscheiden, und das bei einer angespannten Haushaltslage und in Abwägung mit anderen, zum Beispiel sozialen Aufgaben. Halten Sie die Zustimmung der Stadträte für realistisch?

Wenn es die Zusage nicht gibt, verpflichten uns die rechtskräftigen Finanzierungs- und Realisierungsverträge von Stuttgart 21 aus dem Jahr 2009, nach dem Lenkungskreis am Montag die Vergaben zügig abzuschließen und die Baustelle hochzufahren.

Herr Kretschmann argumentiert, durch die Schlichtung sei ein neuer Vertragscharakter entstanden. Teilen Sie diese Ansicht?

Das können wir nicht. Vertrag ist Vertrag, da gibt es keinen Interpretationsspielraum.

Falls Sie den Stresstest vorziehen: Leidet darunter nicht die Qualität? Und wo bliebt die ausführliche Debatte über die Ergebnisse, die insbesondere den Grünen am Herz liegt?

Es geht nur darum, den Test um wenige Tage vorzuziehen. Auch wenn etwas aufs Tempo gedrückt wird, werden wir und die Gutachter sauber und solide arbeiten. Das verspreche ich. Auch die Ergebnisdebatte kann stattfinden. Das setzt allerdings voraus, dass wir nicht alle Tage von Minister Hermann neue Wünsche für den Fahrplan erhalten, der im Test gefahren wird.

Erreicht S21 im Stresstest die 30 Prozent?

Das weiß ich noch nicht. Nach heutigem Stand dürfen wir aber davon ausgehen, dass wir ein positives Resultat erzielen. Ich darf an der Stelle daran erinnern, dass sich alle Projektträger, also auch das Land Baden-Württemberg, vertraglich verpflichtet haben, Stuttgart21 mit Nachdruck zu verwirklichen. Wer seiner Projektförderungspflicht nicht nachkommt, macht sich angreifbar, wenn nicht strafbar. Der Stresstest ist nicht von Heiner Geißler vorgeschlagen worden, um das Projekt kaputt zu machen, sondern um es gegebenenfalls zu verbessern.

Müssten Sie nicht damit rechnen, dass die Projektgegner den Test komplett anders interpretieren und Ihnen vorwerfen, am 15.Juni Aufträge für ein untaugliches Projekt zu vergeben? Dann hätten Sie den Konflikt bloß ein paar Wochen verschoben . . .

Da bin ich anderer Meinung. Außerdem würden wir uns absichern. Wir stellen uns das so vor, dass uns die Landesregierung verbindlich zusichert, dass die Testergebnisse bei Leistungsnachweis am Tag der Präsentation von allen Beteiligten akzeptiert werden. Der Stresstest muss ein Ende setzen, er darf keine neue Endlosdebatte einläuten.

Weshalb sollten sich die Kritiker und Gegner des Projekts darauf einlassen?

Wir tun alles, um eine Eskalation zu vermeiden. Das sollte auch im Interesse von Stadt und Landesregierung sein. Im Gegenzug fordern wir von unseren Partnern auch einen Beitrag: Wir müssen die Bürger gemeinsam überzeugen, dass der Stresstest glaubwürdig und aussagekräftig ist. Ich halte das für eine Selbstverständlichkeit. Ich möchte hier erneut meinen guten Willen zeigen. Ich muss allerdings betonen, dass es diesbezüglich kein weiteres Entgegenkommen mehr geben kann. Hier ist sozusagen eine rote Linie - bis hierher und nicht weiter.

Seite 3: Der Bahnchef über die Kosten von Stuttgart 21

Das klingt wie eine Drohung.

Da haben Sie sich verhört. Ich drohe nicht, ich erläutere mein Handeln: Der 15. Juli ist ein immens wichtiges Datum. Mein Entgegenkommen, das Projekt bis dahin anzuhalten, ist mein letzter Kompromissvorschlag. An der Stelle könnte man ergänzen, dass die Deutsche Bahn im Eigentum des Bundes ist. Wenn ich Schaden für die Firma vermeide, vermeide ich Schaden für den Steuerzahler.

Trifft es zu, dass Sie einen Großteil der Aufträge schon Anfang 2011 hätten vergeben können - damit aber mit Rücksicht auf die alte CDU-FDP-Regierung im Landtagswahlkampf gewartet haben?

Diesen politischen Zusammenhang gibt es nicht. Es trifft zwar zu, dass wir bereits im Januar hätten vergeben können. Aber damals waren wir mit den Preisen, die uns die Firmen genannt haben, noch nicht zufrieden. Jetzt sind wir auf einem guten Weg.

Sie erreichen die Preise, die der aktuellen Baukostenkalkulation von 4,088 Milliarden Euro zugrunde liegen?

Vor der Vergabe darf ich dazu nichts sagen.

Halten Sie den Kostenrahmen von maximal 4,5 Milliarden Euro ein?

Heute kann ich dazu ruhigen Gewissens Ja sagen. Wer aber glaubt, er wisse exakt, wie sich ein derart großes Infrastrukturprojekt in zehn Jahren entwickelt, sollte die Finger davon lassen. Wer da Gewissheit vorgibt - wie es manche Projektgegner mit ihren Horrorzahlen tun - argumentiert unredlich.

Haben Sie persönlich den Eindruck, dass es sich lohnt, noch einmal mit Kretschmann, Hermann oder Schuster um Lösungen zu ringen? Spüren Sie auf der anderen Seite des Tisches den nötigen guten Willen?

Den spüre ich. Alle Beteiligten wollen eine Lösung; allen voran der Ministerpräsident.

Sie haben einen Draht zu Kretschmann?

Wir haben bisher sehr sachliche und ausgesprochen angenehme Gespräche geführt. Wir wollen immer so miteinander umgehen, dass der Dialog nicht abreißt.

Für Grüne und SPD ist die Volksabstimmung unverzichtbar. Wie es jetzt aussieht, kann frühestens im Oktober abgestimmt werden, während parallel dazu mit Hochdruck S21 gebaut wird. Ist das kein Widerspruch?

Wenn das Land das Moratorium so weit ausdehnen will, kostet es mindestens die vorher genannten 410 Millionen Euro. Wir können uns nicht vorstellen, dass das Land diese gewaltigen Kosten übernimmt. Wir, die Bahn, können und dürfen es nicht. Dass es eines Tages zu einer solchen Konstellation kommt - also Bauarbeiten parallel zur Volksabstimmung - hätte man früher wissen können. Immerhin haben wir am 3.Februar 2010 offiziell mit den Bauarbeiten begonnen.

Wie schätzen Sie die Haltung der Bürger ein, die Stuttgart21 ablehnen?

Ich glaube, da gibt es viele Menschen, die auf die Schlichtung und den Stresstest vertrauen und von allen Beteiligten erwarten, dass sie dafür sorgen, dass der Streit nicht nochmals so eskaliert wie vorigen Herbst. Und noch etwas: Bei der Wahl am 27. März haben über zwei Drittel der Wahlbeteiligten Parteien gewählt, die für S21 sind.

Es gibt bei den Projektgegnern auch härtere Fraktionen . . .

Ja, die gibt es auch. Die Parkschützer-Initiative hatte sich ja bereits geweigert, konstruktiv an der Schlichtung mitzuwirken. Auch mit diesen Menschen werden wir versuchen, vernünftig umzugehen.