Leonhardsstraße bei Nacht Foto: Petsch

Wie sich das Milieu auf dem Straßenstrich der Stuttgarter Altstadt verwandelt hat.

Stuttgart - Seit Jahren karren Busse aus Osteuropa junge Prostituierte und Zuhälter in die Stuttgarter Altstadt. Auf dem Straßenstrich herrscht blankes Elend. Die alten Zeiten im "Städtle" existieren nur noch in romantisierten Erinnerungen.

An der Kebab-Station in der Stuttgarter Altstadt, in der Nähe der Leonhardskirche, dem Treffpunkt der Gestrandeten, wartet Günther vor seinem Koreaner-Kombi auf alte Kumpel. Früher wäre ihm kein anderer Wagen als ein Daimler auf den Hof gekommen. Die Zeiten haben sich geändert. Günther wird demnächst siebzig, und da reicht ein Spießer-Koreaner, auch wenn der Fahrer noch immer dasteht wie ein Athlet im guten Mannesalter. Der Körper muskulös, das Haar frisch geföhnt und leicht getönt, wie damals. In den sechziger und siebziger Jahren war er ein guter Amateursportler und ein professioneller "Loddel". So nannte man im Viertel die Zuhälter.

Günther war einer von den "Jungs" im Rotlichtmilieu. Ein Junge drückte mit Seidenstrümpfen und Slippern an den Füßen die Pedale einer Stingray Corvette oder eines Daimler-Cabrio, am besten knallrot wie der SL der legendären Edelhure Rosemarie Nitribitt im Kino. Seine Arbeitskleidung ließ er beim Maßschneider in der Königstraße fertigen, tausend Mark pro Anzug. Einen Riesen konnte auch ein kleiner Zuhälter am Tag verdienen. Zwei, drei Damen schafften eine solche Summe mühelos netto an, auch wenn man die "Kuppe", den Hurenlohn, brüderlich teilte.

Ersatzfamilienstimmung herrschte an Weihnachten

Heute neigt man dazu, die alten Tage im Altstadt-Milieu zu romantisieren, die ewig verlockende Exotik käuflicher Erotik. "Familiär" sei es gewesen, sagt Günther, und womöglich ist das verglichen mit heute nahe an der Wahrheit. Ersatzfamilienstimmung herrschte an Weihnachten, wenn der Milieumusikant Kurt Hörber, in der Stadt als "Kotlett" berühmt, für die Huren und Luden "Ave Maria" auf der Geige spielte, im Finale seiner Show liegend auf dem Kneipenboden. Kotlett ist schon seit dreiundzwanzig Jahren tot, und bis heute sind es die Geschichten über Typen wie ihn, die man sich in nostalgisch verklärten Stunden erzählt. Keiner erinnert sich gern an die Schicksalsberichte aus den miesen Ecken des Schmuddels. Erst neulich hat jemand unter dem Pseudonym "die Tochter" einen Zeitungsartikel über das Rotlichtviertel mit Biografischem kommentiert:

"Es war einmal . . . ein Schreiner, der hatte eine Tochter und nicht viel Arbeit und wenig zu beißen. Frau und Tochter darbten an 5 Tagen der Woche. Es war Anfang der 60er, die Tochter war 17, die Mutter 34, der Vater Halunke. Am 6ten Tag der Woche kam der Befehl: wir fahren ins Städtle, A . . . schaffen . . . burg, dauerte meist 2 Tage, der Halunke hatte keine Arbeit und seinen Schnaps, die Mutter konnte ihre Rechnung beim Alimentari bezahlen, und die Tochter weinte . . . So war's damals im Städtle."

Es ist nicht menschlicher geworden im Städtle, wie man die Altstadt nennt. Ganz im Gegenteil. Die Prostitution im Quartier ist auf dem Tiefpunkt der Stuttgarter Rotlichtgeschichte angekommen, und es wäre nicht falsch, frei nach Dostojewski zu sagen, die unterste Stufe der Erniedrigung erzeuge eine Lust. Im Leonhardsviertel, dem ehemaligen, von der Politik heute vergessenen Stadtzentrum mit seinen alten, denkmalwürdigen Häusern, bieten sich junge Mädchen den Freiern inzwischen ab 15 Euro an.

Der Wanderzirkus der Elendsprostitution

Für diesen Preis machen sie zum Schrecken von Sozialarbeitern und Ärzten fast alles. Kondome werden selten benutzt.

Die letzten Veteranen im Städtle, als stille Beobachter längst im Ruhestand, können sich nicht erinnern, jemals so schlecht und krank aussehenden Huren begegnet zu sein wie heute. Wirtsleute am Leonhardsplatz beobachten Prostituierte, wie sie zwei Wochen lang Tag und Nacht in denselben Billig-Klamotten an der Ecke stehen, bewacht von jungen Zuhältern mit Halsketten und Sonnenbrillen nach Gangsta-Rap-Vorbild. Sie kommen aus Osteuropa, sprechen kaum Deutsch, sind unterwegs nach dem Geschäftsmodell übler Drücker-Kolonnen. Sie tauchen auf und verschwinden, und nicht nur die Polizei findet kein Mittel gegen den Wanderzirkus der Elendsprostitution.

Seit Jahren ebnen Rathauspolitiker mit fragwürdigen Immobilien-Deals den Weg für illegale Geschäfte. Immer wenn die Stadt Gebäude an juristisch gut beratene Rotlichtgrößen verkauft, werden danach als Wohnungen getarnte Buden für sexuelle Dienste gegen Cash vermietet. Alte Profis nennen den Straßenstrich "Tschernobyl". Nie hat man ernsthaft versucht, das Quartier mit dem Charme einer urbanen Kultur aus Halbseidenem und Stil aufzuwerten.

Harte Drogen im Milieu

Die große Ära der typischen Siebziger-Jahre-Zuhälter, dieser deutschen Schlager-Abteilung im internationalen Sex-Business, ging Mitte der achtziger Jahre zu Ende. Da hatten die Herren in den Maßanzügen die Vierzig überschritten und keine Lust mehr, sich im Nahkampf mit zahlungsunwilligen Freiern und neuen, internationalen Zuhältern zu üben. Hinzu kam, dass inzwischen harte Drogen im Milieu kursierten, ein Geschäft, mit dem die alten Jungs nichts zu tun haben wollten. Sie hielten sich an Pils, Whiskey-Cola und Champagner.

Schon Anfang der siebziger Jahre war eine schwer bewaffnete Altstadt-Delegation aus Stuttgart nach Westberlin geflogen, um mit befreundeten Kollegen aus Frankfurt in eine Straßenschlacht gegen "die Perser" zu ziehen. Bei der Schießerei gab es Tote. Ausländische Luden, sagten die politisch meist scharf rechts gefärbten Mitglieder der deutschen Fraktion, überschwemmten die Szene mit Drogen. Auch in Stuttgart starben Dirnen an Heroin.

Als sich die Altstadt-Könige, fast alle im Zweiten Weltkrieg geboren, zurückzogen, es mit legalen Geschäften versuchten oder auf dem Sozialamt landeten, ging eine Ära der Subkultur zu Ende. Die Jungs mit den Rolex-Uhren und Goldketten, den Schuhen aus Mailand und Hemdkragen im Rex-Gildo-Format pflegten eine eigene Banditensprache, leisteten sich für die Überwachung der Kunden- und Polizei-Bewegungen rund um ihre illegalen Spielhöllen einen "Schmoddre-Mann" (schmoddre = beobachten) und hielten sich bedingt an den Ehrenkodex der Unterwelt: kein Verrat, Schulden pünktlich zurückzahlen, nicht in fremden Revieren wildern. Mit ihren Kajalgeschminkten Damen hofierten sie freizügig im Nachtleben. Zwar spielte Gewalt im Milieu durchaus eine Rolle, wurde aber gern mit dem Hinweis auf sportive Fairness beschönigt. Schließlich saß die Familie an allen Boxringen und hatte moralisch selten Probleme mit schmutzigem Lorbeer.

Der Hurenlos stürzt ins Bodenlose

Nach den Männern in den Maßanzügen und Harlekin-Kostümen übernahm im Städtle eine neue Generation von deutschen Zuhältern die Straßen; sie fuhren im Porsche und Lamborghini vor Discotheken vor, spürten aber bereits die Konkurrenz aus Europas Osten im Nacken. Aus Ländern wie Jugoslawien und Albanien rückte eine Sippschaft von Zuhältern an, die in den Großstädten mit einer zuvor unbekannten Brutalität die Macht übernahm. Die letzten deutschen Statthalter der Stuttgarter Straßenprostitution wanderten bald nach dem Berliner Mauerfall in die ehemalige DDR ab, profitierten in Dresden oder Leipzig von den Wirren des bankrotten Arbeiter- und Bauernstaats. Im Leonhardsviertel brach eine neue Zeit gefährlicher Gesetzlosigkeit an.

Zur Jahrtausendwende war der Niedergang des Milieus deutlich zu sehen. Huren, die sich einst das Essen aus guten Restaurants hatten bringen lassen, standen immer öfter in der Schlange vor der Imbissbude. Städtle-Gänger erlebten, wie manche Dame, die einst im Mercedes zur Arbeit fuhr, eines Tages nur noch Pommes bestellte. Die Wurst war zu teuer geworden, der Hurenlohn angesichts der vielen neuen Billigkräfte im Gewerbe ins Bodenlose gestürzt. Das alte Milieu, aufgrund der strengen Polizeistunden in der Stadt bis in die neunziger Jahre hinein auch eine Notgemeinschaft aus Rotlichtfiguren und Intellektuellen, Künstlern und Kriminellen, war endgültig untergegangen. Bis dahin halbwegs originelle Altstadt-Kneipen, im Morgengrauen auch Sammelbecken illustrer Gestalten aus Justiz-, Polizei- und Rathausbehörden, verkamen zu Kaschemmen.

Kenner der Szene nennen das Jahr 2004 als Beginn der schlimmsten Brutalisierung des kleinen Stuttgarter Rotlichtbezirks. Immer mehr Busse mit jungen, trainierten Straßentypen und noch jüngeren Mädchen rollten aus osteuropäischen Ländern wie Rumänien in die Altstadt. Die Leute im Viertel treffen sich inzwischen mit Politikern und Kriminalbeamten am Runden Tisch zu Krisensitzungen, die Polizei aber gibt sich im seit jeher schwierigen Kampf gegen die Zuhälterei bsiher so gut wie machtlos. Lude und Hure sind meistens verheiratet, weisen sich als touristisches Ehepaar aus.

Übrig geblieben vom Reichtum ist selten etwas

Mutmaßungen, der gigantische Sexmarkt im Internet hätte den einst halbwegs geordneten Straßenstrich ins Abseits gedrängt, sind Humbug. Im ältesten Gewerbe der Welt bandelt nach wie vor eine große Kundschaft rücksichtsloser Männer das Geschäft mit der schnellen Befriedigung ausschließlich auf der Straße an.

Auch der Verdacht, die oft schwer gezeichneten, immer öfter an Syphilis erkrankten oder mit dem HI-Virus infizierten Prostituierten lockten nur menschenscheue Freier mit merkwürdigen Neigungen an, ist falsch. Kenner wissen von durchaus attraktiven und billigen Straßenhuren im Viertel. Die aber sieht man selten. Sie arbeiten nonstop im Zimmer ihrer Absteigen. Ihre Zuhälter kassieren nur gut bei Massenabfertigung im Akkord.

Wenn man im Leonhardsviertel, einer an sich chancenreichen Gegend mit Musik-Clubs, Restaurants und Bars, zum Abschied mit Günther am Autofenster plaudert, erzählt man sich noch einmal die alten Geschichten. Wie die Jungs mit ihren Damen zum Italienurlaub ins Thermal- und Skiparadies Bormio aufbrachen, das Louis-Vuitton-Köfferchen mit frischen Scheinen unter dem Sitz eines nagelneuen Mercedes-Cabrio. Cash bezahlt, versteht sich. Übrig geblieben vom Reichtum ist selten etwas. Günther hat sich viele die Jahre als Kellner und Türsteher durchgeschlagen und Glück gehabt. Das neue Elend in der alten Heimat kennt er nur als Feierabendgast.