Unterirdische Leitungssysteme mit vollautomatisch fahrenden Güterkapseln könnten den Warenverkehr mit Lkw überflüssig machen. Foto: CargoCap

Die Diskussion über Feinstaub, Staus und Fahrverbote reißt nicht ab. Doch wie könnte ein zukunftsfähiges Stadtquartier aussehen? Viele Experten setzen auf das Rosensteinviertel als Testfeld. Dort könnte entstehen, was jetzt noch wie Zukunftsmusik klingt.

Stuttgart - Land und Stadt kämpfen gegen die Luftverschmutzung. Damit Stuttgart nicht in Verkehr und Dreck erstickt, wird seit Monaten auch über umstrittene Fahrverbote debattiert. Auf so manchen, der an der Diskussion beteiligt ist, wirkt das aber mehr verzweifelt als durchdacht. Nicht wenige fordern, dass die Stadt sich endlich viel grundlegendere Gedanken über ihre Zukunft machen muss.

Dazu gehört auch die Industrie- und Handelskammer (IHK) Region Stuttgart. Die legt bereits seit Jahren Konzepte vor, wie zum Beispiel der Logistikverkehr besser ablaufen könnte. Allein – gehört werde man nicht, heißt es dort. „Vieles geschieht in Stuttgart aus Druck heraus. Für uns stellt sich die Frage, ob die Stadt überhaupt einen Plan für die Zukunft hat“, sagt Hauptgeschäftsführer Andreas Richter. Während man sich bei den öffentlichen Diskussionen zum Beispiel nur auf den Individualverkehr beziehe, gebe es keinerlei Untersuchungen zum Wirtschaftsverkehr. „Man müsste Unternehmen befragen und so eine Grundlage schaffen, damit man sieht, wo man ansetzen kann. Selbst wenn die Ergebnisse vielleicht nicht angenehm sein sollten“, fordert Richter.

Die IHK-Experten sehen zumindest eine Chance, Versäumtes wieder aufzuholen. Denn mit dem geplanten Rosensteinviertel wird es in wenigen Jahren eine innerstädtische Freifläche von enormem Ausmaß geben. Eine Fläche, die sich auch in den Augen von IHK-Präsidentin Marjoke Breuning dazu eignet, ein Modell eines modernen Stadtquartiers zu erproben, in dem Aufenthaltsqualität, Luft und Verkehr stimmen. „Es könnte ein Testfeld sein. Auf einer überschaubaren Fläche könnte man hier beispielhaft umsetzen und ausprobieren, was nach und nach auch anderswo zur Anwendung kommen könnte“, so Breuning. Doch wie könnte so etwas aussehen?

Individualverkehr

„Ziel muss sein, so wenig wie möglich davon im Viertel zu haben“, sagt IHK-Verkehrsexperte Hans-Jürgen Reichardt. Und wenn überhaupt, dann ohne Verbrennungsmotoren. Das bedeutet: Es muss Parkhäuser oder Tiefgaragen am Rand des Gebietes geben. Von dort müssen die Wege für die Anwohner und Besucher dennoch möglichst kurz sein. Es braucht Infrastruktur für Elektroautos, zentrale Punkte für Carsharing und Leihfahrräder. Ampelsteuerungen müssen von einer Leitzentrale der Situation angepasst werden können. Vorgeschlagen werden auch Straßenbeläge aus Flüsterasphalt.

Öffentlicher Nahverkehr

Der muss so attraktiv, schnell und bezahlbar sein, dass er das Auto schlägt. Wichtig ist für Verkehrsexperten aber auch noch ein zweiter Punkt: Bus und Bahn müssen perfekt mit anderen Verkehrsmitteln vernetzt sein. Parkplätze, Leihstationen für Autos oder Räder und Haltestellen müssen so dicht wie möglich beieinander liegen.

Wirtschaftsverkehr

Dort sehen die Fachleute die größten Entwicklungschancen. „Bisher denkt die Stadt das Thema Logistik nicht mit“, kritisiert Reichardt. Wolle man Lieferverkehr eindämmen, müsse man Freiflächen zur Umverteilung vorhalten. Oder gleich den ganz großen Wurf planen. In der Schweiz laufen derzeit Planung und Investorensuche für ein unterirdisches Schienensystem. Paletten mit Gütern könnten außerhalb der Städte in Verteilzentren in große, autonom elektrisch fahrende Kapseln umgeladen und so in die Zentren gebracht werden. Dort würden sie an sogenannten Hubs um- und weiterverteilt. „Das Problem bleibt das letzte Stück Weg, die letzte Meile“, so Reichardt. In letzter Konsequenz könnte man ein solches System aber sogar bis in größere Häuser bauen.

Bemühungen gibt es auch in Deutschland. Die Firma CargoCap befindet sich derzeit im Raum Bergisch Gladbach in der Vorphase mit Machbarkeitsstudie und Investorensuche. Bei diesem System haben die Fahrrohrleitungen einen Durchmesser von 2,8 Meter – sehr viel weniger als zum Beispiel ein Stadtbahntunnel. „Wir haben versucht, über die Landesregierung auch Zugang zu Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn zu bekommen“, sagt Chef Dietrich Stein. Allerdings bisher ohne Erfolg. Dabei sehe man die Landeshauptstadt als „einen der dringendsten Orte, um als Beispielregion voranzugehen“. Ein solches Projekt könne ein Aushängeschild der Stadt werden. Wenn denn auch das Kosten-Nutzen-Verhältnis stimmt. Lastwagen würden dann im Stadtgebiet fast der Vergangenheit angehören.

All diese Punkte sieht die IHK bisher noch nicht konsequent berücksichtigt. „Die Stadt müsste selbst finanziell in Vorleistung gehen, damit auch Unternehmen und Bürger mitziehen. Man muss sagen, was man in zehn oder 15 Jahren haben will“, so Richter. Neuerungen hätten immer dann eine Chance, wenn die Leute Gelegenheit bekämen, mitzumachen und sich darauf einzustellen. Anders etwa als bei Fahrverboten.