Einmal Earl sein: Liebhaber von Rollenspielen schlüpfen bei Veranstaltungen gern in andere Rollen. Foto: Laackman Fotostudios Marburg

Sechs Tage Salami, Minzwein und trocken Brot: Einmal im Jahr verwandelt sich ein junger Stuttgarter in einen englischen Adligen.

Diemelstadt/Stuttgart - Es ist genau 14 Uhr, als im hessischen Diemelstadt die Hölle losbricht. Tausende Ritter, Landsknechte und Orks stürmen los, krachend prallen die Schlachtreihen aufeinander, Pfeile schwirren durch die Luft, die Heerführer brüllen ihre Befehle, wild wogt der Kampf Mann gegen Mann, es riecht nach Leder und Schweiß. Tagelang hatten die Diplomaten Allianzen geschmiedet, jetzt sind der Worte genug gewechselt: Die Endschlacht des Drachenfests hat begonnen.

Mittendrin  in diesem Gewühl aus Schwertern, Streitäxten, Speeren und Bihändern steht Kai: Im echten Leben 36 Jahre alt und Physiotherapeut aus Stuttgart, in der Welt der Drachen, Elfen und Ritter als Earl of Lifford bekannt. Einmal im Jahr verwandelt sich Kai in den Earl. Dann wird aus einem respektablen jungen Mann ein Bruder Leichtfuß, wie er im Buche steht, der keinem Kampf und keinem Weinkrug aus dem Weg geht, seitdem seine Verlobte feige ermordet wurde. „Sie starb in meinen Armen – mit sieben Litern Kunstblut“, erzählt Kai. Seitdem sei der Earl etwas aus der Bahn geworfen und suche sein Heil im Glauben.

Geboren wurde der Earl of Lifford in einem Internet-Chat. „Ich habe mich schon als Kind für das Mittelalter interessiert“, sagt Kai. Doch anders als all die anderen, die davon geträumt haben, einmal ein Ritter zu sein, erfüllt sich Kai diesen Wunsch ab und an. Erst im Internet, inzwischen auch bei Live-Rollenspielen, kurz LARP (Live Action Role Play). „Ich musste eine Arbeit über Rollenspiele schreiben und dachte mir: Du kannst nur über etwas schreiben, wenn du es selbst erlebt hast“, erzählt der 36-Jährige. Eine Freundin schickte ihm einen Link: „Ich hab’ mir den Film angesehen und dachte nur: wie geil.“ Wenige Monate später steht der Earl of Lifford zum ersten Mal in Fleisch und Blut und Kettenhemd in einem Heerlager.

Einfach mal keine Verantwortung übernehmen müssen

Allein in Deutschland gibt es um die 600 öffentlich ausgeschriebene Veranstaltungen pro Jahr mit Teilnehmerzahlen zwischen einem halben Dutzend und 8000. Die Schauplätze – ob der Fantasie entsprungen oder der Historie detailgetreu nachempfunden – reichen vom antiken Rom über das Mittelalter und den Wilden Westen bis zu Endzeitszenarien im Stil des Films „Mad Max“, der Welt der Vampire und Werwölfe oder der Zukunft im Weltall. Die Zahl der aktiven Spieler schätzt der Deutsche Live-Rollenspiel-Verband auf 30 000 bis 40 000. Tendenz steigend. Dabei handelt es sich beileibe nicht nur um Spinner, die der Realität entfliehen wollen. Es sind Ärztinnen, die das Burgfräulein geben, weil sie für ein paar Tage keine Verantwortung übernehmen möchten, Bandarbeiter, die auch mal den Takt vorgeben wollen, oder gelangweilte Beamte, die zu Zauberern werden und Dinge tun, die sie sonst nie tun könnten. Doch warum treibt es immer mehr Menschen in Parallel-Universen? „Weil es einfach unheimlich Spaß macht“, sagt Kai: die Recherche des historischen Hintergrunds, das Erarbeiten von Geschichten, die Herstellung der Ausrüstung und vor allem der Moment, wenn eine Geschichte Eigendynamik entwickelt und den handelnden Personen langsam entgleitet.

Aus dem Ritter, der 2007 ohne Gefolge auf dem Drachenfest auftauchte, ist inzwischen ein geachteter Edelmann geworden, der in diesem Jahr zum ersten Mal den Posten des Heerführers übernehmen sollte. Eine große Ehre, „und der Marschall-Stab stand mir auch ganz gut“, sagt Kai schmunzelnd. Doch leider währt das Glück nur kurz. Als der Earl des Nachts durch das Lager eilt, um sich mit seinen Rittern zu treffen, stürzt er auf dem aufgeweichten Boden und verrenkt sich das Kreuz. Und während sich der Earl noch theatralisch am Boden wälzt, merkt Kai, dass der Marschall-Stab unter diesen Umständen vielleicht doch eine zu schwere Bürde ist. Ob in- oder out-time, sprich im Spiel oder während der Pausen: Der Earl beziehungsweise Kai hat Rücken, und so muss ein anderer die Armee des Silbernen Drachens ins Feld führen.

Nach und nach wird das Gefolge größer

Der Weg vom kleinen Ritter zum verhinderten Heerführer war lang. „Du bist nur ein Edelmann, wenn dich die anderen auch so behandeln. Sonst bleibst du nur ein Typ im Kostüm“, sagt Kai. Dazu bedarf es aber eines Gefolges, denn ohne macht ein Ritter nicht viel her. „Ich habe unsere Gruppe mit einem Bekannten gegründet, den ich auf meinem ersten Drachenfest kennengelernt habe und der später mein Knappe wurde.“

Nach und nach wird das Gefolge größer – auch weil Kai und seine Mitstreiter sich um Authentizität bemühen, ohne penibel zu sein. Spieler aus anderen Gruppen werden auf den Earl und seine Mannen aufmerksam und wechseln die Seiten. „Ich habe 2007 angefangen, war aber erst 2011 zum ersten Mal zufrieden mit meinem Auftritt.“ Mittlerweile ist das Gefolge des Earls auf bis zu 15 Leute angewachsen, was es Kai erleichtert, in seine Rolle zu finden. „Da bin ich dann wie in Trance. Man blendet alles andere aus und ist plötzlich drin.“ Im Notfall helfen zwei Becher Met oder Minzwein, eine Kreation aus Rotwein und Pfefferminztee, für die Kai und sein Gefolge inzwischen bekannt sind.

Seit einigen Jahren sind sie eng mit einer Gruppe aus Belgien befreundet. Man kannte sich von den Drachenfesten, und „eines Morgens stand plötzlich einer der Belgier mit einem Silbertablett voller Essen vor meinem Zelt und fragte: Frühstück, Mylord?“, erzählt Kai.

Stammbaum und lange Familiengeschichte nötig

„Man hat natürlich eine große Verantwortung als Ritter“, sagt Kai. Sein Gefolge wolle ihm ja nicht nur den Schild hinterhertragen. „Wenn wir Gäste an unserer Tafel haben, werde ich bedient.“ Wenn sie unter sich sind, macht aber auch der Earl mal den Abwasch. Das Gefolge muss bei Laune gehalten werden – und auf Trab. Jeder hat seine Rolle und dementsprechende Aufgaben: Der Knecht kümmert sich ums Feuer, der Knappe um die Waffen, Bruder Ulrich unterrichtet die Nichte des Earls in der Kunst des Schreibens – wenn er nicht gerade Dämonen vertreibt und Besessene heilt. Selbst auf dem Schlachtfeld lässt sich der Earl etwas einfallen. „Einmal habe ich meine Lehensritter angewiesen, in die gegnerische Schlachtreihe einzubrechen und die Heerführerin auszuschalten.“ Was daraus wurde? „Sie wurden aufgerieben.“

Um einen Adligen glaubhaft spielen zu können, bedarf es auch eines Stammbaums und einer langen Familiengeschichte. „Je mehr Stoff du entwickelst, je dichter deine Vergangenheit wird, umso mehr kannst du auch spielen.“ Seine vier Brüder hat Kai übrigens John, Paul, George und Ringo genannt. Bisher habe keiner gemerkt, dass dies die Vornamen der Beatles seien. Nicht weniger aufwendig als das Zusammenstellen des Gefolges und das Erfinden einer Familiensaga ist die Suche nach der passenden Ausrüstung. Die Geschichte des Earls hat Kai in die Zeit des dritten Kreuzzugs platziert. „Ich habe mich früher viel mit den Templern beschäftigt, außerdem sind die Rüstungen nicht so schwer.“ Und nicht so teuer, denn allein ein Kettenhemd aus genieteten Ringen kostet rund 200 Euro – mindestens. Darunter trägt der Earl einen Gambesan, eine wattierte Jacke, die die Wucht der Schläge mildern soll. Auch einen Waffenrock und ein Prunkgewand braucht der Ritter von Welt.

„Für so ein Gewand braucht man unglaublich viel Stoff, bis zu acht Quadratmeter. Bei Preisen von 34 Euro pro Quadratmeter kommt da schon was zusammen. Und da sind noch keine Verzierungen oder sonst irgendwas dran.“ Bei der Auswahl achte er darauf, dass man nicht schon aus 200 Metern Entfernung sehe, dass der Stoff im Jahr 2014 produziert wurde. Als Vorlage dienen Kai historische Bücher. Auf das Ausmessen folgt das Erstellen der Schnitte, eine Freundin näht das Ganze dann zusammen. „Ich habe zwischendurch allerdings einen herben Rückschlag erlitten, als mein Vater zusammen mit den Altkleidersäcken fast meine gesamte Ausrüstung dem Roten Kreuz übergeben hat.“ Nur weil sie ebenfalls in einem Sack verpackt war. „Er leugnet es aber bis heute“, erzählt Kai lachend.

Wüste Rauferei

Die Endschlacht ist immer noch in vollem Gange. Es ist eine wüste Rauferei, und auch wenn die Pfeile stumpf und die Schwerter aus Schaumstoff sind, kommt kaum einer der Kämpfer am Ende ohne blaue Flecken davon. Schwere Verletzungen sind zwar selten – doch auch ein vorn gepolsterter Pfeil ist schmerzhaft, wenn er aus wenigen Metern auf einen Kehlkopf trifft, sagt Kai. Und wenn der Getroffene ein zwei Meter großer, schwer gepanzerter Hüne ist, der im Fallen einen nur leicht gepanzerten Bogenschützen unter sich begräbt, dann ist auch das alles andere als angenehm.

Die Ritter des Silbernen Drachens sind in der Unterzahl, sie schlagen sich wacker, doch irgendwann liegen alle in ihrem Kunstblut oder schleppen sich zu den Heilern am Rande des Schlachtfelds. Auch der Earl of Lifford ist unter den Toten. Davor war es ihm gelungen, eine Heerführerin des Feindes aus dem Spiel zu nehmen – trotz seines wunden Rückens. Ein kleiner Trost für den verhinderten Heerführer. Wie er das geschafft hat, kann er nicht sagen, denn direkt danach schlägt auch sein letztes Stündchen. Ewan Richard Henry John Allan Aristide, der sechste Earl of Lifford, wird von zahlreichen Hellebarden aufgespießt und haucht sein Leben aus. Zumindest bis zum Ende der Schlacht, das Kai mit einem Krug Minzwein in der Hand aus der Ferne verfolgt.

Nach einer kurzen Nacht nehmen der Earl und sein Gefolge ein letztes gemeinsames Mahl zu sich. „Bei Burger King – um auch wirklich wieder in der Realität anzukommen“, sagt Kai.