Ob Knappe, Rittersmann, Kriegerin oder edle Jungfrau: In Live-Rollenspielen kann man sich selbst aussuchen, welche Figur man am liebsten verkörpert. Foto: Laackman Fotostudios

Hunderttausende Menschen in Deutschland spielen Rollenspiele. Warum eigentlich? Weil sie Auszeiten vom Alltag bieten, sagt der Mainzer Diplompsychologe Kai W. Müller.

Herr Müller, kann man die Lust an Rollenspielen als ganz normales Hobby bezeichnen?
Ja, zunächst sind Rollenspiele tatsächlich ein ganz normales Hobby. Unter bestimmten Umständen kann sich bei Online-Rollenspielen dieses Hobby allerdings kritisch entwickeln und bei manchen Menschen zu einem Suchtverhalten führen.
Während es beim Fußballspielen oder Stricken um etwas Konkretes, etwas Handfestes geht, ist bei Rollenspielen die Fantasie ein großer Faktor. Macht das die Sache so interessant?
Darin liegt bestimmt ein Reiz. Man lässt die Fantasie spielen, begibt sich in andere Welten, schlüpft in Rollen. Oft in Rollen, die es so im echten Leben gar nicht oder nicht mehr gibt – Krieger, Heiler, Magier etwa. Wenn man es negativ ausdrücken will, handelt es sich um eine Art Realitätsflucht. Positiv gesagt um eine Auszeit vom täglichen Allerlei.
Als Kind spielt man gern Cowboy und Indianer oder Ritter und Prinzessin. Sind Live- oder Online-Rollenspiele die Fortsetzung dieser kindlichen Lust am Verkleiden?
Im wahren Leben muss man zwar auch Rollen übernehmen, aber eher auf äußeren Druck hin. Rollenspiele dagegen bieten eine gute Möglichkeit, dem Neugiertrieb nachzugeben.
Man kann dort auch mehr sein, mehr darstellen, als man im wirklichen Leben ist.
Das ist sicherlich auch ein Motivationsgrund. In die Rolle eines Magiers oder Gauklers zu schlüpfen ist vermutlich spannender, als den ganzen Tag am Fließband zu stehen.
Können Sie erklären, warum die Welten in Rollenspielen oft mittelalterlich geprägt sind? Was macht denn gerade das Mittelalter so faszinierend?
Eine gute Frage. Vielleicht erinnern Sie sich an das Online-Rollenspiel „Second Life“, in dem versucht wurde, ein digitales Abbild unserer wirklichen Welt zu schaffen. Am Anfang war das Spiel populär, heute redet kein Mensch mehr davon.
Ganz anders sieht es bei Spielen wie „World of Warcraft“ oder „Herr der Ringe online“ aus.
Genau, die sind nach wie vor sehr beliebt. Weil sie nun mal Parallelwelten schaffen, die sich in zentralen Punkten vom Alltag abheben. Zudem beinhalten Fantasy- und Mittelalter-Welten auch immer einen Schuss Romantik, etwas Geheimnisvolles, etwas Düsteres. Man wird mit archetypischen Merkmalen konfrontiert, mit Urbildern, die einen eventuell auch an die Kindheit erinnern.
Man könnte aber auch Zukunftswelten schaffen. Warum wird lieber auf Vergangenes zurückgegriffen?
Science-Fiction-Welten gibt es ja auch. Aber Sie haben recht, es gibt mehr Spiele, die das Mittelalter oder mittelalterlich Angehauchtes als Schauplatz wählen. Obwohl es damals gar nicht romantisch zuging, sondern ums nackte Überleben ging. Dennoch scheint da bei manchen Menschen eine Ursehnsucht geweckt zu werden. Der Grund dafür? Ich könnte mir vorstellen, dass uns diese Mittelalterelemente unterbewusst näher sind als ferne Sternenbahnhöfe.
Egal, in welche Welten man sich begibt: Sie sind stets schwarz-weiß gezeichnet, klar in Gut und Böse unterteilt. Weil die wirkliche Welt zu komplex ist, weil man es auch mal einfacher haben möchte?
Untersuchungen zeigen, dass gerade diese simple, klare Unterteilung in Gut und Böse viele Spieler lockt. Ein Krieger, ein Jäger oder ein Magier haben ganz klar bestimmte Eigenschaften, die sie mitbringen müssen. Darüber hinaus muss man nicht viel nachdenken. Anders als im wirklichen Leben werden auch keine diffusen Erwartungen an einen gestellt. Man ist Krieger, Jäger oder Magier – und fertig.
Immer wieder ist zu hören, dass von Rollenspielen Gefahren ausgehen. Etwa, dass die Spieler ins Okkulte abdriften können.
Ich denke, die Nutzung ist im Großen und Ganzen ungefährlich – ob online gespielt oder in der Realität nachgestellt. Dennoch bergen Online-Spiele ein gewisses Suchtpotenzial. Bei den sogenannten Live-Rollenspielen braucht man das ganze Drumherum. Die Kostüme zum Beispiel oder einen Spielort. Und man trifft sich an bestimmten Wochenenden. Online kann ich aber zu jeder Zeit gehen – und solange ich will bleiben.
Sind nur Jugendliche gefährdet?
Nein, das betrifft jedes Alter und alle Schichten. Natürlich nutzt die Generation 50 plus derzeit Computer und somit auch Computerspiele noch weniger als jüngere Leute. Somit werden in dieser Altersgruppe auch weniger Menschen süchtig. Dennoch können alle betroffen sein.
Wie können Sie helfen?
Es ist wie bei jeder Sucht: Der Betroffene muss einsehen, dass er ein Problem hat.
Wie viele Menschen behandeln Sie denn?
In unsere Praxis kommen jedes Jahr etwa 150 Patienten aus dem erweiterten Rhein-Main-Gebiet. Laut Studien liegt die Allgemeingefährdung deutschlandweit etwa bei einem Prozent der Bevölkerung. Damit sind wir auch international im Schnitt.
Eine letzte Frage: Sind Sie selbst Fan von Rollenspielen?
Durch meine Arbeit muss ich mich natürlich damit beschäftigen. Aber privat macht mir das keinen Spaß. Man kann sich ja nicht für alles begeistern.