Willemsen Foto: dpa-Zentralbild

Mit seiner Reihe „Flüchtlingsgespräche“ will das Literaturhaus in diesem Monat ein Beispiel der Offenheit geben. Der Publizist und Moderator Roger Willemsen wird zu den Gästen gehören. Ein Interview über den Wert des Fremden, Mitfühlen in der Literatur, kulturellen Austausch und den Fetisch Wachstum.

Stuttgart – - Herr Willemsen, Sie engagieren sich in verschiedenen Zusammenhängen für Flüchtlinge, auch bei der UN-Flüchtlingshilfe. Was war Ihr ursprünglicher Zugang zu dieser Thematik, wo liegen die Wurzeln Ihres Engagements?
Es ist fast unmöglich, sich in literarische Figuren einzufühlen, realen Personen gegenüber aber diese Einfühlung nicht aufzubringen. Zum ersten Mal besuchte ich ein Flüchtlingslager auf der Grenze zwischen der Elfenbeinküste und Liberia. Es handelte sich um Kriegsflüchtlinge: verelendete, traumatisierte, panisch erschrockene Menschen, in deren Augen man ahnen konnte, was sie gesehen hatten. Es gibt etwas, das Flüchtlinge überall eigen ist, eine Ähnlichkeit im Unglück, die ich auch in Afghanistan, auch in Nepal bei Besuchen von Flüchtlingscamps beobachtet habe. Es wahrzunehmen und es zugleich nicht dulden zu wollen ist ein und dasselbe.
Sie werden am 29. Januar zur Eröffnung der Reihe „Flüchtlingsgespräche“ im Stuttgarter Literaturhaus zu Gast sein. Die Reihe wurde konzipiert vor den Anschlägen in Paris. Wie hat sich die Situation verändert?
Jede Situation, in der Ressentiment, pauschale Ablehnung, Vorurteil dominiert, ist latent gewalttätig. Insofern haben die Anschläge von Paris etwas akut erscheinen lassen, was längst da war und was beide Seiten betrifft: In der östlichen Welt wird die internationale Politik in Afghanistan, im Irak, in Syrien fatal, wenn nicht verbrecherisch gefunden. In der westlichen Welt fürchtet man zu Recht die Gewalt islamistischer Gruppierungen. Die antimuslimische Stimmung bekommt dabei inzwischen auch bei uns bisweilen etwas verdeckt Gewaltsames – denken Sie nur an die Bilder der privaten Sicherheitsdienste in deutschen Flüchtlingsheimen. Solche Bilder schaffen es bis nach in Afghanistan. Dennoch: Die Pariser Attentate sind auch für die Flüchtlinge fatal. Ihre Lage wurde durch sie noch schwieriger und bringt sie noch tiefer in die Defensive.
Kommt in der islamfeindlichen Haltung, die sich in jüngerer Zeit in Deutschland immer stärker artikuliert, nicht auch eine generell fremdenfeindliche Haltung zutage, die nun auf die Religion projiziert wird? Wo sehen Sie die Gründe für diese Entwicklung?
Sie haben recht, der Radius der Aversion reicht weit über gewalttätige Fanatiker hinaus und meint vor allem zwei Gruppierungen: die „fremden Fremden“, also jene, die nicht der westeuropäisch-angloamerikanischen Welt zuzuordnen sind, vor allem aber handelt es sich um eine soziale Abwehr, denn vielfach meint man nur die Armen, denen man regelrecht parasitäre Absichten unterstellt. Es ist bedrückend: In unserem Land reisen die Menschen mehr als fast alle anderen Nationen der Welt, und doch bringen sie offenbar wenig Empathie mit.
Zurück zur Literatur, die Sie eingangs erwähnten und die ja auch den eigentlichen Hintergrund der „Flüchtlingsgespräche“ bildet: Was kann sie tun? Auf welche Weise kann Literatur in diesem Zusammenhang aufklärerisch wirken und für Toleranz werben?
Die Literatur fordert ja dauernd Prozesse des Mitempfindens. Literatur muss also keinen Pamphletismus pflegen, sie braucht auch keine Romane als verkappte Leitartikel anzubieten. Indem sie ist, was sie ist – Veranschaulichung, sinnliches Erkennen, Kritik, Imagination des Besseren –, in diesem Sinne ist sie auch aufklärerisch.
Welche Rolle haben Migrationsbewegungen in der Geschichte der Literatur gespielt, wie haben sie diese bereichert?
Die gesamte Literaturgeschichte ist ein einziger Kulturaustausch. Einige der wichtigsten Texte der antiken Philosophie sind erst auf dem Umweg über Konstantinopel nach Europa zurückgekehrt, wo sie unbekannt waren. Shakespeares Stoffe bewegten sich über den ganzen Kontinent, und wer sich mit der deutschen Exilliteratur zur Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt, der begegnet zahlreichen Tauschbeziehungen der fruchtbarsten Art und wird immer dankbar sein, dass es Länder, Kulturen, Menschen gab, die Flüchtlinge aus Deutschland aufnahmen, ohne sie „Einwanderer in unsere Sozialsysteme“ zu nennen.
Welche Rolle messen Sie dabei der Mehr- oder Vielsprachigkeit bei? Kann die Begegnung unterschiedlicher Kulturen auch in dieser Hinsicht eine Bereicherung darstellen – indem sie den Menschen alleine auf sprachlicher Ebene weitere Assoziations- und Erfahrungsräume öffnet?
Auf dem Feld der Literatur tauschen wir uns ja lebendig aus. In kaum einem Land werden so viele ausländische Bücher verlegt wie in Deutschland. Zahllos sind aber auch die Beispiele dafür, wie sich in einer anderen Sprachlogik auch eine andere Sicht auf die Welt niederschlägt. In Afghanistan etwa beginnt die Kommunikation niemals mit dem „Ich“, sondern sie setzt immer beim Gegenüber ein.
Die Veranstaltungsreihe der „Flüchtlingsgespräche“ möchte auch thematisieren, wie Deutschland selbst in der Vergangenheit von Migrationen geprägt wurde. Glauben Sie, dass es heute eine stärkere Tendenz gibt, sich gegen eine solche Einsicht zu sperren, und woran könnte das liegen?
Auf der einen Seite haben wir eine Politik, die Begriffe wie Wachstum und Wohlstand wie Fetische behandelt – ohne Blick auf jene, die für beides bezahlen. Auf der anderen Seite ist eine Bevölkerung, die Angst hat, beides zu verpassen – auch wenn sie selbst in großen Teilen nicht profitiert. Das Ergebnis ist unter anderem eine Desolidarisierung mit Armen, Flüchtlingen, Hilfesuchenden. Auch die Sympathie für die sozial schlecht gestellten Deutschen hat ja drastisch abgenommen. Es geht also häufig weniger um den Gegensatz einheimisch – fremd als um den Gegensatz wohlsituiert – unterstützungsbedürftig.
Was kann die Politik tun, was können einzelnen Bürger tun angesichts des Flüchtlingselends, das immer größer wird? Und welche Rolle spielen die Medien?
Was immer die Politik tun müsste, wird sie nicht tun, weil es unpopulär wäre. Die Zeiten sind vorbei, in denen man glauben konnte, Zuwanderung über hochgezogene Zugbrücken verhindern zu können. Die Bürger machen in großen Teilen die beste Figur durch Privatinitiativen, hohe Spendenbereitschaft, tätige Unterstützung der Flüchtlinge, und ich habe ein paar bemerkenswerte Persönlichkeiten unter den Beamtinnen und Beamten der zuständigen Ämter getroffen. Die Medien sollten bisweilen ihre Pseudoneutralität aufgeben und eindeutiger Position beziehen. Das könnte allerdings Konsumenten kosten. Aber billiger ist Humanität eben manchmal nicht zu kriegen.