Ein Stützgerüst sichert Helma Mulders Eigenheim vor dem Einstürzen –jetzt soll es einem billigen Holzhaus weichen Foto: Helma Mulders

In der Provinz Groningen im Nordosten der Niederlande bebt die Erde. Ursache ist die Gasproduktion in einem der größten Gasfelder der Welt. Dem Königreich fehlen alternative Energiequellen – und so fließt der Erdschatz weiter. Jetzt ziehen die obersten Richter des Landes die Notbremse.

Groningen - Ein paar kleine, unscheinbare Risse. Mehr war da nicht zu sehen, als Helma Mulder 2008 ihr kleines Backsteinhaus kaufte. Sie stammten von einem Erdbeben, ausgelöst durch den Abbau des 900 Quadratkilometer großen Gasfeldes, das nur drei Kilometer unterhalb der Gemeinde Loppersum im Herzen der niederländischen Provinz Groningen liegt. „Wird schon nichts passieren“, dachte sich die Mutter zweier Söhne damals. Bis der 12. August 2012 kam. Ein Erdbeben der Stärke 3,6 erschütterte die Region. Und alles wurde anders.

Zwei Jahre lang mussten die Mulders zwischen Stützpfählen hausen, die quer durch das ganze Haus verteilt waren und die dem einst gemütlichen Wohnzimmer den Charme einer Baustelle verliehen. Seit Januar lebt Helma mit ihren inzwischen zu Teenagern herangewachsenen Jungen in einer Übergangswohnung. Wenn sie zurück in ihr eigenes Heim zieht, wird an derselben Stelle ein anderes Häuschen stehen. Keines aus rotbraunen Backsteinen. Sondern ein billiges Holzhaus, verkleidet mit Kunststeinen aus Plastik. Und viel kleiner als das alte. Das war alles, was ihr die Erdölgesellschaft NAM angeboten hat. Die Alternativen wären dauerhafte Stahlverstrebungen quer durch das Wohnzimmer gewesen – oder der Verkauf.

Gericht in den Niederlanden zieht Notbremse

Für Helma Mulder keine Option: „Ich habe nie darüber nachgedacht, wegzuziehen.“ Die Sorgen um das Haus, sie haben Mulder viele schlaflose Nächte bereitet. Ihre Sorgen kennt niemand besser als Corine Jansen, die die Bürgervereinigung Groninger Bodem Beweging (GBB) leitet.

Die 67-Jährige lebt selbst in einem alten Häuschen etwas außerhalb der Gemeinde Loppersum, wo fünf der 20 Gasproduktionsstätten der Erdölgesellschaft NAM liegen. Die Wand ihrer kleinen, aber urgemütlichen Wohnküche steht längst nicht mehr im Lot. Die zahlreichen Risse in dem alten Fachwerk sind inzwischen notdürftig ausgebessert worden. 15 000 Euro Schaden waren entstanden: „Keine große Sache“, winkt Jansen ab. Andere habe es viel schlimmer getroffen, meint sie.

Loppersum ist zu einem Epizentrum geworden. Viele der typischen Backsteinhäuser und zahlreichen traditionellen Bauernhöfe mit ihren hohen, langgezogenen Rietdächern müssen gestützt werden. Allein in diesem Jahr wurde das 10 000-Einwohner-Dorf bereits drei Mal schwer erschüttert. Einige haben Angst, ihr Haus könnte einstürzen. „Ich kenne Leute, die nur noch angezogen mit ihrer Straßenkleidung in ihren Betten schlafen“, erzählt Jansen.

Doch jetzt das höchste Gericht der Niederlande die Notbremse gezogen. Die Richter untersagten am Dienstag die Produktion an insgesamt fünf Stellen um den Ort Loppersum. Nur wenn die Gasversorgung aus anderen Bohrgebieten nicht gedeckt werden könne, dürfe das Verbot aufgehoben werden, heißt es in der einstweiligen Verfügung.

Ein totales Förderverbot, wie von der Bürgervereinigung und Politikern gefordert, lehnte das höchste Verwaltungsgericht aber ab, da sonst die Versorgung des Landes und auch Exportverpflichtungen in Gefahr kämen. Eine endgültige Entscheidung will das Gericht später fällen.

Erdölgesellschaft bestreitet Zusammenhang von Beben und Förderung

Dass der einstige Schatz von 2800 Milliarden Kubikmeter Erdgas, der 1959 entdeckt wurde, eine ganze Region einmal derart aufrühren würde, hat damals niemand erwartet. Jahrzehntelang war alles gut gegangen, Zwischenfälle gab es kaum – trotz massiver Gasproduktion mit bis zu 80 Milliarden Kubikmeter pro Jahr Ende der 1960er Jahre. Mit der Erschließung kleinerer Gasfelder im ganzen Königreich wurde die Produktion zurückgefahren. Um die Jahrtausendwende waren diese Vorkommen aufgebraucht: Die Groninger Produktion wurde wieder angekurbelt und die Erschütterungen nahmen zu.

Einen Zusammenhang streitet die Niederländische Erdölgesellschaft NAM, die zur Hälfte dem britisch-niederländischen Branchenriesen Shell, zur anderen Hälfte dem amerikanischen Betrieb ExxonMobil gehört, aber bis heute ab. Dafür gebe es keinen wissenschaftlichen Beweis. Wurden in den 20 Jahren zuvor nur etwa 1100 Schäden registriert, sind seit dem schweren Beben 2012 über 30 000 Schadensmeldungen bei der Gesellschaft eingegangen. Allein in Loppersum wurden mehr als 60 Prozent der Häuser beschädigt. Eine Handvoll von ihnen ist dadurch unbewohnbar geworden.

Im Januar 2013 reagierte das zuständige Ministerium der Niederlande. Es deckelte die jährliche Gasfördermenge und will sie stufenweise abbauen: 2013 belief sich diese noch auf 54 Milliarden Kubikmeter, in diesem Jahr dürfen nur noch 39,4 Milliarden Kubikmeter produziert werden. Dabei schwelte zwischenzeitlich sogar die Diskussion, das Groninger Feld könne eine mögliche Alternative zu russischen Gasimporten für Europa werden.

„Unmöglich“, sagt dazu Loppersums Bürgermeister Albert Rodenboog. Denn eine Untersuchung legte nahe, dass auf die Region noch weitaus schwerere Beben zukommen könnten: bis zu 5,0 auf der Richterskala. Bei einer solch gewaltigen Erschütterung muss in Groningen theoretisch bereits mit über 100 Toten gerechnet werden. „Bis das bekannt wurde, haben die Menschen mit den Beben zu leben gelernt“, erzählt Rodenboog. So etwas wie Angst habe es nicht gegeben. Doch mit der erschreckenden Prognose sei ein „Sicherheitsaspekt“ hinzugekommen.

Erdgasvorkommen in Groningen gehören zu den größten Europas

Der Regionalminister im provinzialen Parlament von Groningen, William Moorlag, fordert deshalb, „den Gashahn so schnell wie möglich abzudrehen“. Dabei sind 98 Prozent der niederländischen Haushalte von der Energie aus dem Nordosten abhängig. Die Erdgasvorkommen in Groningen gehören zu den größten Europas. Im ersten Halbjahr 2015 sollen 16,5 Milliarden Kubikmeter Gas gewonnen werden.

Die Niederlande sind nach Norwegen der größte Gasproduzent Europas. Für den Staat bedeuten die Bohrrechte und Steuern auf das geförderte Gas zudem jährlich Milliardeneinnahmen – 2014 flossen so fast 13 Milliarden in die Staatskasse. Doch das Gasfeld ist bereits zu zwei Dritteln leergepumpt.

Importe bleiben wegen anderer Gaszusammensetzungen vorerst schwierig, doch schon ab 2025 wird das Land ohne sie nicht mehr auskommen. Derzeit fehlt es dem Königreich noch an Alternativen – der Anteil erneuerbarer Energien liegt bei nur vier Prozent. Und so läuft die Gasproduktion in Groningen vorerst weiter. Auch wenn die Erde bebt.

Ihre Erschütterung traf auch den Immobilienmarkt mit voller Wucht. Hypotheken wurden plötzlich höher als der Wert der Häuser selbst, die heute kaum noch oder nur zu einem Bruchteil des ursprünglichen Preises verkauft werden können. Rentner sehen ihre Altersvorsorge im Nichts verschwinden. In fast jeder Straße von Loppersum steht ein Schild vor einem der kleinen Häuser: „Te koop“ – zu verkaufen.

Auch Jan de Vries (der seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen will) hat ein Maklerbüro angeworben. Aus Altersgründen und wegen einer Gehbehinderung versucht der 71-Jährige seit fast einem Jahr sein großes Grundstück zu verkaufen – vergeblich. „Diese Menschen sind in ihren eigenen Häusern gefangen“, beklagt Bürgermeister Rodenboog. Inzwischen arbeitet die Regierung an einem Gesetz, das die Erdölgesellschaft in solchen Fällen dazu verpflichten soll, Bürger wie de Vries auszuzahlen. Viele der Groninger wollen jedoch in ihrer Heimat bleiben, „trotz allem“.