Ortwin Renn Foto: Andreas Heddergott

Risikoforscher Ortwin Renn über Ängste nach Japan und die Gefahren der Atom-Alternativen.

Stuttgart - An diesem Montag kommt die neue Ethikkommission der Bundesregierung erstmals zusammen, um über die Zukunft de Atomkraft zu beraten. Ein Mitglied ist der Stuttgarter Risikoforscher Ortwin Renn (59). Wir sprachen mit ihm über echte Risiken, Hysterie und die Gefahren durch andere Energieträger.

Herr Professor Renn, was sind die größten Lebensrisiken hierzulande?

Bei den Todesursachen stehen die Herz-Kreislauf-Erkrankungen an erster Stelle, gefolgt von Krebs. Was ernste, lang anhaltende Krankheiten angeht, kommen nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen psychische Depressionen an zweiter Stelle.

Und die restlichen Todesfälle?

Da steht der Suizid ganz vorne, wenn man die ganz Alten und die ganz Jungen weglässt. Tödliche Unfälle passieren meist im Haushalt oder in der Freizeit, gefolgt vom Straßenverkehr. Ganz zum Schluss kommen die Arbeitsunfälle.

Haben somit jene Recht, die sagen, die Debatte um die Atomkraft sei hierzulande hysterisch, die Ängste stünden in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Risiko?

Nicht ganz. Die Angst vor der Atomkraft hat ja durchaus ihre Gründe. Ich sage gern: Die Atomkraft ist zwar ein Sündenbock, auf dem vieles abgeladen wird, aber kein Unschuldslamm.

Aber bislang sind relativ wenige Menschen durch einen Akw-Unfall umgekommen?

Wenn wir nur die Todesfälle betrachten, ist die Bilanz der Atomenergie in der Tat wesentlich besser als die der Alternativen. Denken Sie nur an die Wasserkraft, da gab es schon verheerende Brüche von Staudämmen mit tausenden von Toten. Oder nehmen Sie die Unglücke beim Kohleabbau. Weltweit sterben dabei knapp 8000 Menschen pro Jahr, allein in China sind es rund 5000.

Dennoch scheint Kohle kurzfristig die einzige Alternative zur Kernkraft zu sein. Neue Kohlekraftwerke sind schon in Bau, die Aktien der Kohleunternehmen sind nach dem Reaktorunglück von Japan stark gestiegen.

Wenn ich mich persönlich entscheiden müsste zwischen Kernenergie und Kohle, dann würde ich mich eher für die Kernenergie entscheiden - allein der Risiken wegen. Beim Verbrennen von Kohle werden ja nicht nur Schadstoffe in die Luft geblasen, sondern auch oft radioaktive Stoffe freigesetzt - und zwar in nicht unerheblichen Mengen. Wenn ich die Belastung für das Klima durch den CO-2-Ausstoß hinzunehme, addiert sich das zu einem flächendeckenden, schwer veränderbarem Risiko, das von der Größenordnung her durchaus mit der Kernkraft vergleichbar ist. Und dieser Vergleich geht nach meiner Einschätzung eher zugunsten der Kernkraft aus - auch nach Japan

Auch trotz Tschernobyl?

Tschernobyl war natürlich schlimm, vor allem weil durch die Explosion sehr viel radioaktives Material in die Luft geschleudert wurde. Aber die Gesamtbelastung Europas durch die radioaktive Strahlung war wesentlich geringer als durch die Atombombentests Anfang der 60er Jahre. Und wenn wir keine große Explosion in einem Reaktor haben, so wie bislang in Fukushima, dann ist das kontaminierte Gebiet überschaubar. Wenn radioaktive Feststoffe in den Boden eindringen, dann ist dieser in der Tat auf Jahrzehnte, vielleicht sogar auf Jahrhunderte hinaus belastet. Um diese hoch verseuchte Gegend herum fällt die Radioaktivität aber dramatisch ab.

Atomkraftbefürworter sagen, Tschnernobyl habe relativ wenige Opfer gefordert, die Gesundheitsgefahren und die Langlebigkeit radioaktiver Strahlung würden überschätzt.

In Tschernobyl sind in den ersten beiden Jahren nach dem Unfall zwischen 50 und 300 Menschen an akuten Strahlenschäden gestorben - mehr auf keinen Fall. Nachgewiesen sind als Langzeitfolgen zudem 6000 Fälle von Schilddrüsenkrebs, der aber zu 98 Prozent heilbar ist. Zwar stieg auch die Leukämie-Rate, aber dies auch in Gegenden, wo es keine erhöhte Strahlung gab.

Umweltschützer sprechen aber von zehntausenden Krebstoten durch Tschernobyl.

Das sind hypothetische Werte. Wissenschaftler gehen bislang davon aus, dass jede Strahlung über Null das Krebsrisiko erhöht. Genau weiß das aber keiner. Durch Tschernobyl stieg das Krebsrisiko für den Einzelnen von 24,01 auf 24,0102. Wenn Sie dieses minimal erhöhte Risiko nun mit den 380 Millionen Menschen multiplizieren, die einer erhöhten Strahlung ausgesetzt waren, kommen Sie auf die rund 30000 Erkrankungen, die häufig genannt werden.

Wie groß sind die Risiken eines Endlagers?

Wenn man den Atommüll so unsachgemäß wie in Asse lagert, dann sind die Risiken groß. Wenn man das aber vernünftig handhabt, ist das Risiko für die Menschen, auch für künftige Generationen sehr, sehr gering. Wir haben bereits Endlager für chemischen Sondermüll mit vergleichbaren Risiken. Da ist die Aufregung aber längst nicht so groß.

Trotzdem haben vor allem die Deutschen sehr viel Angst vor der Atomkraft, auch vor anderen Technologien wie der Gentechnik. Ist diese Angst selbst eigentlich risikofrei?

Nein. Angst ist kein Luxus, den man sich als reiches Land leisten kann. Angst macht auch krank. Menschen, die zum Beispiel Angst vor Mobilfunkmasten haben, leiden in der Tat unter den befürchteten Symptomen, selbst wenn die Masten gar nicht in Betrieb sind. Angst kann ein guter Ratgeber sein, er kann aber auch in die Irre führen. Das müssen die Menschen wissen. Dass Depressionen an zweiter Stelle der ernsten, langen Krankheiten stehen, ist kein Zufall.

Und wer nun Angst um sich wegen Japan hat?

Dazu besteht objektiv kein Grund. Als Risikoforscher darf man nichts ausschließen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Ereignisse in Fukushima für uns gesundheitsschädigend werden, ist außerordentlich gering. Eher fällt ein Meteorit auf Deutschland.

Sie sind Mitglied der neuen Ethikkommission zur Zukunft der Atomkraft. Was wird da Ihr Beitrag sein?

Mir ist ganz wichtig, dass wir, wenn wir jetzt ein neues Energiekonzept aufstellen, nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Wenn wir unsere Kernkraftwerke abschalten und stattdessen Atomstrom aus Frankreich oder Tschechien importieren, dann wäre das wirklich Augenwischerei, dann belügen wir uns selbst. Grundsätzlich halte ich es aber für sinnvoll und richtig, dass Deutschland aus der Atomkraft aussteigt, einfach weil wir die wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten und die technischen Alternativen dazu zu haben. Ob dies für alle anderen Länder auch sinnvoll ist, da wäre ich mal zurückhaltend.

Wie schnell können wir aussteigen?

Das geht nicht in dem rasenden Tempo, wie sich das viele vorstellen. Die 23 Prozent Kernenergie lassen sich bestimmt innerhalb der nächsten zehn Jahre durch andere, risikoärmere Energieträger ersetzen. Wenn wir aber auch noch die 42 Prozent Kohle ersetzen wollen, dann wird es schwierig, das wird eine ganz große Herausforderung. Der Anteil regenerativer Energien beträgt derzeit ja gerade mal 17 Prozent.