Hellmut G. Bomm (hinten) hat die Entwürfe für die Schablonen erstellt. Diese Mauer am Murrufer ist eine von mehreren Flächen, die die Stadt Backnang für Reverse Graffiti ausgesucht hat – das Projekt ist auch Werbung für das Murrspektakel im September. Foto: Jan Potente

Verwitterte Wände, Schablonen aus Stahl und Wasser unter Hochdruck: In Nu entstehen an Gebäuden, auf Mauern und Gehwegen Hingucker. Aber handelt es sich bei Reverse Graffiti tatsächlich um Kunst? Darüber kann man streiten.

Backnang - Die beiden Männer sind auf den ersten Blick kaum zu erkennen. Sie tragen Schutzanzüge, Mützen, Sicherheitsbrillen und Ohrendämpfer. Sie stehen unter dem Bahnviadukt in der Straße Roßlauf am Stadtrand von Backnang und halten eine Schablone aus Stahl an eine Betonwand neben der Fahrbahn. Normalerweise tragen der Leiter der Wirtschaftsförderung der Stadt, Ralf Binder, und sein Kollege vom Stadtmarketing, Simon Köder, schickere Anzüge – und keine Ohrenschoner. Aber bei dieser Aktion sind besondere Vorkehrungen erforderlich. Was machen die Männer denn da? Das fragt eine Passantin. „Reverse Graffiti“ lautet die Antwort. Reverse was?

Mit von der Partie ist die Firma Kärcher aus der Nachbarstadt Winnenden, die weltweit Hochdruckreinigungsgeräte in allen erdenklichen Größen verkauft. Nick Heyden hält die Spritzpistole so eines topmodernen Apparats in den Händen – und er hält voll drauf auf die Schablone. Im Nu wird der Teil der Betonmauer, den die Schablone nicht verdeckt, gereinigt. Nach ein paar Sekunden ist das Werk fertig, ein umgekehrtes Graffito, ein Reverse Graffito. Jetzt ist auf der Mauer „950 Jahre Backnang“ zu lesen. Die Schrift: hell, gesäuberter Beton. Der Hintergrund bleibt dunkel.

Kärcher sponsert seit rund 35 Jahren Reinigungsprojekte

Heyden hat bei Kärcher Mechatroniker gelernt. Der 26-jährige Mann ist bei seinem Arbeitgeber im Bereich restauratorische Reinigung beschäftigt. In einer Arbeitspause erzählt Heyden, dass er ständig unterwegs sei, weltweit. Demnächst fliegt er zusammen mit einem Kollegen in die USA, die Aufgabe: Stone Mountain reinigen, drei übergroße Reiter und Pferde. Kärcher sponsere seit rund 35 Jahren solche Projekte, berichtet die Pressereferentin Isabelle Kabisch, die mitgekommen ist nach Backnang. Kärcher habe schon einige übergroße Reverse Graffiti auf die verschiedensten Bauwerke gezaubert, zum Beispiel riesige Fische auf eine Talsperre.

Reverse Graffiti seien schlicht „vergängliche Kunst“, sagt Nick Heyden. Meistens hielten die mithilfe eines Hochdruckreinigers und viel Wasser geschaffenen Gebilde mindestens ein paar Monate. Allmählich wachsen die von den Betonflächen entfernten Moose, Farne, Pilze und Flechten nach. Oder die Rußpartikel in der Luft pinseln auf die Flächen wieder eine graubräunliche Einheitsfarbe.

950-Jahre-Schriftzug und eine stilisierte Murrwelle

Der Backnanger Grafiker Hellmut G. Bomm hat die Schablonen entworfen, die nun in seiner Heimatstadt für die Reverse Graffiti verwendet werden: den 950-Jahre-Schriftzug, die stilisierte Murrwelle, die kreisförmig angeordneten Wassertropfen, die eine Blume formen. Diese Wassertropfenblume ist das Werbesymbol für das Murrspektakel, das Anfang September gefeiert wird, ein großes Fest am Fluss.

Sind Reverse Graffiti Kunst? Darüber kann man trefflich streiten. Bomm, der viele Dutzende Signets für Firmen, Vereine, Kommunen und Organisationen entworfen hat, sagt augenzwinkernd: „Kunst? Das ist eigentlich nicht mehr mein Ding.“ Alles, was er entwerfe, habe „einen sehr speziellen Zweck“ – anders als ein Kunstwerk. Ralf Binder gibt zu, dass er zwar kein großer Kunstexperte sei. Er sagt indes auch: „Ob etwas Kunst ist, das entscheidet doch der Betrachter.“ Bomm mustert das Gemeinschaftswerk auf der Betonfläche der Unterführung nochmals und erklärt dann sinngemäß: Okay, man könne es vielleicht doch als Kunst durchgehen lassen. Über Reverse Graffiti wird andernorts mitunter heftig gestritten. Dabei geht es nicht um die Frage der Kunst, sondern um diese: legal oder illegal? Binder sagt, in Backnang hätten alle Eigentümer der Betonflächen zugestimmt.

Der Grafiker Hellmut G. Bomm betritt Neuland

Hellmut G. Bomm
Der Backnanger Grafiker Hellmut G. Bomm ist 69 Jahre alt und seit Jahrzehnten im Geschäft. Von Reverse Graffiti habe er bis vor Kurzem nie etwas gehört gehabt. Bomm hat unter anderem das Symbol für das Jugendzentrum Backnang gezeichnet: drei Pfeile, die in die Mitte eines Kreises zeigen.

950 Jahre
Mit der Reverse- Graffiti-Aktion weist die Stadt darauf hin, dass Backnang vor 950 Jahren erstmals urkundlich erwähnt worden ist. die Zahl 950 ist nun unter anderem hier zu sehen: beim Jugendhaus, auf der Sulzbacher Brücke, an der Murr, auf dem Oelberg sowie in der Eugen-Adolff-Straße.

Murrspektakel
Die Agentur, die von der Stadt Backnang damit beauftragt worden ist, eine kleine Werbekampagne für das Murrspektakel zu konzipieren, hat den Vorschlag gemacht, Reverse Graffiti einzusetzen. Das große Fest am Fluss wird am Wochenende 2. und 3. September in Backnang gefeiert.