Letzter Schliff: Eine Mitarbeiterin Foto: Przybilla

Mit Müll kochen? Für die meisten Wohlstandsbürger eine verrückte Idee. In Reste-Restaurants zeigt sich, dass es funktioniert. Ein Besuch im Instock, der neuesten Adresse in Amsterdam.

Amsterdam - An diesem Morgen war die Ausbeute besonders groß. Selma Seddik beugt sich über die Plastikkisten. Blumenkohlköpfe, Porreestangen und Tomaten stapeln sich darin, dazu Äpfel und jede Menge Brokkoli. Die Ware ist noch originalverpackt und eine Woche haltbar. Gutes Essen also, das trotzdem niemand mehr wollte: Hätte Seddik die Lebensmittel nicht entgegengenommen, wären sie auf dem Müll gelandet – vom Supermarkt direkt in die Tonne. Die Vereinten Nationen schätzen, dass mehr als 800 Millionen Menschen an Unterernährung leiden. Gleichzeitig wird ein Drittel aller produzierten Nahrungsmittel weggeworfen. „Ich konnte das irgendwann nicht mehr mit ansehen“, sagt Seddik, die deshalb zum „Food Rescuer“ geworden ist. So nennen sich alle, die im Instock arbeiten. Die Essensretter betreiben in Amsterdam ein Restaurant, in dem mit Resten gekocht wird. Was im Supermarkt übrig bleibt, kommt im Instock auf den Tisch.

Seddik, 26 Jahre alt, hat früher im Management des niederländischen Ahold-Konzerns gearbeitet, einem der größten Betreiber von Supermarktketten weltweit. „Der Job dort hat Spaß gemacht, aber je mehr mir die Verschwendung bewusst geworden ist, desto größer war das Verlangen, etwas zu verändern.“ Zusammen mit drei Kollegen kam ihr die Idee eines Reste-Restaurants. „Wir haben uns hingesetzt und einen Businessplan geschrieben. Mit dem sind wir dann zum Chef gegangen.“ Die Reaktion übertraf ihre optimistischsten Erwartungen. Ihr Arbeitgeber ermunterte sie, an einem firmeninternen Innovationswettbewerb teilzunehmen, und sponserte so unter anderem die neue Einrichtung und die Küche. Drei der vier Gründungsmitglieder erhalten von dem Konzern heute ein Gehalt, während die anderen Mitarbeiter aus den Einnahmen des Instock finanziert werden.

Bereits ein Dreivierteljahr nachdem Seddik und ihre Kollegen ihren Vorschlag präsentiert hatten, eröffnete das Restaurant. Das Instock liegt an einer Gracht, untergebracht in einem renovierten Backsteingebäude, in dem sich mehrere Kneipen und Restaurants angesiedelt haben. Über dem Eingang thront ein weiß gestrichener Einkaufswagen. „In stock“ heißt auf Englisch „auf Lager“, und so verstehen die Mitarbeiter auch ihre Arbeitsweise. Gekocht wird nur mit Zutaten, die vorhanden sind. Zumindest fast: „Fünf Prozent unseres Umsatzes geben wir für Einkäufe aus“, sagt Seddik. Olivenöl, Salz und Pfeffer gehörten eben nicht zu den Dingen, die ein Supermarkt nach Ladenschluss aussortiert.

Gegen 13.30 Uhr betritt der Koch den Raum. Baaf Vonk, 28 Jahre, ist Sous-Chef im Instock. Auch er mustert nun den Inhalt der Plastikkisten, aus dem er im Laufe des Tages ein Vier-Gänge-Menü bereiten wird. Mit seinen Gästen, sagt Vonk, habe er etwas gemeinsam: „Niemand weiß morgens, was abends serviert wird.“ Nervös mache ihn das nicht, er habe seit der Eröffnung schon jede Menge Erfahrung gewonnen. „Suppen sind für uns die perfekte Vorspeise. In ihnen kann man unheimlich viele Zutaten verarbeiten. Außerdem bleiben sie lange warm.“ Trotzdem, auch das kann der Sous-Chef nicht verhehlen, geht das nicht immer. Manchmal passen die Zutaten nicht zueinander, ein anderes Mal geraten die Portionen zu klein. Vonk lacht: „Die Gäste sagen mir das ins Gesicht, und das ist auch gut so. Nur durch ehrliches Feedback werden wir besser.“

21 Uhr, ein Hauch von Olivenöl und Bratensoße liegt in der Luft, was dank der offenen Küche noch verstärkt wird. Die Gäste sollen mit eigenen Augen sehen, wie ein Sammelsurium an Zutaten zu einem opulenten Menü verarbeitet wird. Ein Spruch über dem Herd erinnert daran, dass man hier mit gutem Gewissen speist: „Dieses Essen wurde gerade gerettet.“

Vonk ist jetzt ganz in seinem Element; er rührt, hackt, knetet, blanchiert. Als Vorspeise hat er eine Bruschetta mit Räucherlachs kreiert, dazu Brokkoli und getrocknete Tomaten. Es folgen: Blini mit Enten-Eintopf, Kartoffelpüree und Brokkolikrümeln; Meerrettich-Truthahn mit Kartoffelspalten, Rosenkohl und – bei der angelieferten Menge nicht verwunderlich – nochmals Brokkoli. Fehlt nur noch das Dessert (warme Waffeln mit Ananas und Chilidip), um das 25-Euro-Menü zu komplettieren. So lecker das Essen schmeckt, so verloren dürften Vegetarier an diesem Abend dastehen. Vonk zuckt mit den Schultern: „Deshalb raten wir dazu, vorher bei uns anzurufen.“

Trotz aller Überraschungen – oder gerade deswegen – reißt der Strom der Gäste nicht ab. „Es ist einfach mal was ganz anderes“, sagt Hendrik de Rycker, ein 31-jähriger Musiker, der aus Antwerpen angereist ist. „Ich finde das Prinzip gut, war aber auch neugierig, wie die Reste schmecken.“ Diese Erfahrung hat auch das Instock-Team gemacht: „Wir haben sehr viele Gäste aus dem Ausland, die neugierig sind“, sagt Selma Seddik. Inzwischen hat sich das Instock weiter professionalisiert: Seit Juni 2015 befindet es sich an einem neuen, dauerhaften Standort. Außerdem betreibt das Restaurant nun einen eigenen Food-Truck. Rund 2000 Euro Umsatz macht das Instock pro Abend – genug, um die Kosten zu decken; zu wenig, um substanzielle Gewinne einzufahren. Der Mutterkonzern Ahold will trotzdem an dem Projekt festhalten, wohl auch, weil es gut fürs Image ist.

Bisher ist all das freilich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Noch sind Reste-Restaurants die Ausnahme; in Deutschland gibt es bis heute keines. Warum das so ist, darüber lässt sich nur spekulieren. „An gesetzlichen Hürden kann es nicht liegen“, sagt Wolfgang Voit, Leiter der Forschungsstelle für Europäisches und Deutsches Lebens- und Futtermittelrecht an der Uni Marburg. „Rein rechtlich spricht nichts gegen den Betrieb eines Reste-Restaurants. Die Tafeln machen ja im Grunde dasselbe.“ Auf europäischer Ebene sei das Lebensmittelrecht inzwischen weitestgehend identisch – auch wenn die Vollzugspraxis unterschiedlich ausfallen kann. „Wenn sich in einem deutschen Reste-Restaurant jemand den Magen verderben würde, wäre das Geschrei wahrscheinlich groß“, so Voit.

Vermutlich ist es eine Frage der Mentalität. „Mich ärgern die großen Supermarktketten, die ihre Lebensmittel lieber wegwerfen, als sie uns zu geben“, sagt Sophie Sales, eine der Gründerinnen des Reste-Restaurants Rub & Stub in Kopenhagen. „Eigentlich müsste man schon an dieser Stelle ansetzen.“ Lebensmittel-Experten wie Frances Vaak, Leiterin der Projektgruppe für Wertstoffkreisläufe und Ressourcenstrategie am Fraunhofer-Institut in Alzenau, stimmen zu. „Wenn es um die Wegwerfgesellschaft geht, steht bisher vor allem der Verbraucher im Mittelpunkt.“ Besser sei es, die Wertschöpfungskette von Anfang an zu betrachten: „Warum akzeptieren Supermärkte keine kleinen Kartoffeln oder krumme Gurken? Nicht, weil es die EU vorschreibt, sondern weil sie im Regal nicht so hübsch aussehen.“ Reste-Restaurants findet die Wissenschaftlerin trotzdem gut. „Sie sind eine super Sache, weil sie das Umdenken fördern. Das ist ein kleiner, aber wichtiger Schritt.“

Hintergrund: Ideen gegen das Wegwerfen

Selber kochen: Eine vom Verbraucherschutzministerium in Auftrag gegebene Studie der Universität Stuttgart kam 2012 zu einem erschreckenden Ergebnis: Jeder Deutsche wirft pro Jahr 81,6 Kilo Lebensmittel weg. „Für einen durchschnittlichen Vier-Personen-Haushalt bedeutet das, dass pro Jahr Lebensmittelabfälle im Wert von rund 935 Euro in Restmüll, Biotonne und Kanalisation entsorgt, eigenkompostiert oder an Haustiere verfüttert werden.“ Als Reaktion hat die Bundesregierung die Kampagne „Zu gut für die Tonne“ ins Leben gerufen. Dazu gehört auch die App „Beste Reste“, die Verwendungsmöglichkeiten für vermeintliche Abfälle aufzeigt. www.zugutfuerdietonne.de

Tafeln: Nach dem Vorbild der europäischen „Food Banks“ wurden in Deutschland 1993 die ersten Tafeln gegründet. Die gemeinnützigen Organisationen verteilen überschüssige Lebensmittel kostenlos oder gegen eine geringe Summe an Bedürftige. In Deutschland gibt es derzeit über 900 Tafeln, die 1,5 Millionen Menschen regelmäßig versorgen – ein Drittel davon Kinder und Jugendliche. www.tafel.de

Foodsharing: Dank des Internets ist es heute leichter, Abnehmer für überschüssige Lebensmittel zu finden. Das Online-Portal Foodsharing.de bringt Privatpersonen, Händler oder Produzenten zusammen, die etwas abgeben oder abholen möchten. Die Seite wird von Ehrenamtlichen betrieben; ihre Nutzung ist kostenlos. www.foodsharing.de

Containern: Halblegale Variante, bei der Müllcontainer nach Lebensmitteln durchwühlt werden, oft in Hinterhöfen großer Supermärkte oder Firmen. Während Bedürftige dies häufig als notwendiges Übel gegen den Hunger in Kauf nehmen, setzen Konsumverweigerer ganz bewusst aufs Containern. Ermittlungen, etwa wegen Hausfriedensbruchs oder Diebstahls, werden nach gängiger Rechtsprechung meist wegen Geringfügigkeit eingestellt. (prz)