Sakina, 30, war Offizierin der afghanischen Armee – sie floh mit ihren Kindern vor den radikalislamischen Taliban. Foto: Kneißler

Im Reitstadion beim Cannstatter Wasen in Stuttgart sind in beheizten Zelthallen zurzeit knapp 400 Flüchtlinge untergebracht. Wir haben uns 24 Stunden lang dort umgesehen – hautnah den Alltag von Flüchtlingen und Helfern miterlebt.

Stuttgart - 6:00 Uhr Es ist klirrend kalt. Schichtwechsel. Dort, wo sonst Neuankömmlinge registriert werden, haben sich Übersetzer und Securitypersonal versammelt. „Wie war die Nacht?“, fragt Schichtführer Salah* aus Ägypten die Kollegen. Eine Frau ist ins Krankenhaus gekommen, ansonsten ist es ruhig geblieben, berichtet Mohammed. Die Mitarbeiter der Betreiberfirma Campanet, die sich um die Flüchtlingsunterkunft im Reitstadion beim Cannstatter Wasen in Stuttgart kümmern, sind inzwischen routiniert. Alle sprechen außer deutsch entweder arabisch oder persisch. Der hochgewachsene Salah, 53, strahlt Ruhe aus. Er beginnt seinen Rundgang durch das Camp, in dem noch absolute Stille herrscht. Knapp 400 Plätze sind in den für 1100 Menschen ausgelegten Zelthallen belegt. Schwach erleuchten einige Lampen um halb sieben die Essenshalle. Mitarbeiter einer Cateringfirma bereiten das Frühstück vor.

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8:00 Uhr Nach und nach erwachen die Bewohner der Zeltstadt. Mustafa greift nach dem Honig und lächelt schüchtern. Der Vierjährige frühstückt mit seiner Mutter Jenan. Er hat noch vier Geschwister, sein Vater ist im Irak gestorben. Jenan ist mit den Kindern allein geflohen, zu Fuß und mit einem Boot. „Die Versorgung im Camp ist sehr gut, alle sind sehr hilfsbereit“, sagt die 43-Jährige. Doch das Warten auf die Anerkennung als Asylsuchende zermürbt sie. Jenan weint, drückt Mustafa an sich, tupft sich die Tränen ab. „Entschuldigung“, flüstert sie.

9:00 Uhr: Nach dem Frühstück steuern viele Flüchtlinge die medizinische Sprechstunde an. Jeden Tag von 9 bis 13 Uhr stellen Ärzte und Krankenpfleger der Malteser, Johanniter und dem DRK die ärztliche Notversorgung sicher. „Die meisten Flüchtlinge kommen mit jahrestypischen Beschwerden zu uns – Virusinfekte, Husten, Grippe“, berichtet die deutsche Ärztin Solveig Mitt. Zwei geflohene Ärzte mit Persisch- und Englischkenntnissen, Dr. Samira und Dr. Dahoud, unterstützen die deutschen Mediziner. Ohne ihre Mithilfe wäre die Notversorgung kaum vorstellbar. Dr. Samira übersetzt die Schilderungen der Patienten aus dem Persischen ins Englische. Die schwangere Frau aus Nordafghanistan hat gleich nach ihrer Ankunft angefangen, in der Medizinstation mitzuarbeiten. „Ich arbeite hier umsonst, um mich zu beschäftigen“, sagt die Gynäkologin.

12:30 Uhr Das Essenszelt füllt sich. Es gibt Pute, Fladenbrot und Bulgur – Weizenschrot, der besonders in der orientalischen Küche beliebt ist. Bevor man sich hier seinen Teller abholen darf, ist die Desinfektion der Hände unter Aufsicht Pflicht. Zum Mittagessen ist das Zelt voller als beim Frühstück.

14:00 Uhr In der Kleiderkammer herrscht drei Stunden vor der Ausgabe noch ein wenig Chaos. Auf einem Kleiderständer in der Mitte des Raumes hängen Winterjacken und Mäntel, nach Größen sortiert. Hier stapeln sich Kisten mit Pullovern für Frauen und Männer, Schuhen, Kuscheltieren. In den vergangenen Tagen wurden viele Spenden abgegeben – nicht alles hat Verwendung gefunden, erzählt eine ehrenamtliche Helferin. Hochhackige Schuhe zum Beispiel, schmutzige Wäsche oder viel zu große Männerhosen.

15.30 Uhr Ibrahim hilft beim Sortieren der Spenden, jeden Tag mehrere Stunden. Wenn er nicht gerade irgendwo in der Zeltstadt zum Übersetzen gebraucht wird. Der 29-jährige Flüchtling aus Syrien bekommt für jede Stunde Arbeit einen Euro. Helfer wie er sind hier unverzichtbar geworden. Dabei ist Ibrahim selbst erst seit zwei Wochen in der Zeltstadt – nach fast drei Wochen Flucht von Aleppo über den Balkan. „Die Situation in Syrien hat mich krank gemacht“, sagt er in perfektem Englisch. „Keine Hoffnung. Nur Krieg und Warten. Aber wie lange?“ Also gab er seinen Job als Ingenieur auf, bekam Geld von seinen Eltern und machte sich auf den Weg. Manchmal geht er nebenan bei der Teststrecke von Daimler Autos beobachten. Oder auf den Weihnachtsmarkt. Auch mit dem Deutschlernen hat er begonnen – das hat nun Priorität. Zumindest nachts, nach dem Arbeiten.

16:00 Uhr Inzwischen ist es kalt geworden. Die letzten Sonnenstrahlen fallen auf die Kieswege zwischen den großen Zelten. Ein paar junge Männer spielen Fußball, im großen Aufenthaltszelt sitzen einige Menschen zusammen, trinken Tee und laden ihre Handys auf. Aus einer Ecke des Zeltes sind Kinder zu hören: Hier, hinter hohen Sichtwänden vom Trubel abgeschirmt, unterrichten Batul Mohammadi und ihre Kolleginnen die Kinder in Farsi, malen und spielen mit ihnen – jeden Tag von etwa 10 bis 21 Uhr. An die 30 Kinder seien meist in der Ecke, sagt die kleine Iranerin mit dem roten Kopftuch. „Es wäre gut, wenn jemand Deutschunterricht mit den Kindern machen würde“, übersetzt eine Dolmetscherin Mohammadis Worte. Bisher gibt es keine Ehrenamtlichen für Sprachunterricht.Viel zu tun ist nun nicht mehr bis zum Abendessen.

18:00 Uhr Vor den Zelten ist es zu dunkel, um Fußball zu spielen. Und zu kalt. Es ist ruhig geworden, nur die Heizanlagen dröhnen unerlässlich.

18:30 Uhr Das Abendessen beginnt, doch im Essenszelt ist es ruhig. „Meistens kommen die Leute erst ein bisschen später“, sagt einer der Sicherheitsmitarbeiter. Und tatsächlich: Eine Viertelstunde später reicht die Schlange der Wartenden fast die gesamte Zeltwand entlang. Das Abendessen besteht aus Hühnchen, Fladenbrot, einem Stück Gurke und zwei Tomaten. Richtig satt macht die Portion nicht. Die Menschen essen und unterhalten sich. Die meisten bleiben nicht allzu lange – im Essenszelt ist es heute viel kühler als in den anderen Zelten. Wer trotzdem bis zum Schluss bleibt, kann sich noch einen Nachschlag ergattern.

19:30 Uhr Eine junge Frau hat in der Kinderecke einen CD-Spieler angeschaltet. Der Bass aus den Lautsprechern dringt nach draußen in die kalte Winterluft und lockt eine Gruppe von Kindern an. Eine Frau zeigt einem kleinen Mädchen, wie es seine Arme zur Musik bewegen soll. Eine junge Frau mit langen, braunen Haaren schlingt ein Tuch um ihre Hüften und bewegt sich zum Rhythmus. Mit spitzen Schreien bekunden die Zuschauerinnen ihre Bewunderung.

22 Uhr Aus dem Aufenthaltszelt ist immer noch gedämpfte Musik zu hören. Eine kleine Gruppe Männer tanzt im Wechsel zu orientalischen Klängen, dazwischen hüpfen ein paar Kinder, einige Frauen klatschen im Takt. Fazelhaq traut sich als Erster aufs Parkett. Der 25-jährige Afghane tanzt hier fast jede Nacht. „Weil ich glücklich bin“, sagt er. Glücklich, dass er im sicheren Deutschland ist, nicht mehr in Afghanistan.

23:00 Uhr Dolmetscherin Nafisa zeigt auf eine Frau: „Mit ihr müsst ihr sprechen.“ Sakinas rundliches Gesicht ist sorgfältig geschminkt. Sie schaut freundlich, strahlt aber eine tiefe Traurigkeit aus. Die 30-Jährige ist geschieden und allein mit ihren drei Kindern nach Deutschland geflohen. Sie holt ihr Handy hervor: Darin sind alle ihre Erinnerungen gespeichert – ihr größter Stolz neben den Bildern ihrer Kinder sind Schnappschüsse, die Sakina in Uniform zeigen: In Afghanistan war sie Offizierin und stand einer weiblichen Brigade vor. Unter schwarzen Baretts tragen die Frauen dunkelgrüne Kopftücher. Als geschiedene Frau und Armeeangehörige war sie für die radikalislamistischen Taliban doppelte Zielscheibe. 2009 wurde sie mit einer Gruppe afghanischer Frauen von US-Präsident Barack Obama nach Washington eingeladen und dort für ihr Engagement ausgezeichnet. Jetzt arbeitet Sakina in den Zelthallen im Waschraum mit.

3:15 Uhr Nachtschichtführer Mohammed Alilou lädt zum Kontrollgang über das Gelände ein. Die riesigen Heizöltanks müssen alle zwei, drei Stunden kontrolliert werden. „Damit es überall schön warm ist“, sagt er. Draußen ist es eisig kalt – minus ein Grad Celsius. Die meisten Sicherheitsleute sitzen deshalb in den warmen Zelten. Mohammed klettert derweil über Heizröhren und Stangen. Mit einer Taschenlampe kontrolliert er den Stand der Öltanks, während die Menschen in den Zelthallen schlafen.

6:00 Uhr Salah kommt um kurz vor sechs Uhr wieder zur Schichtablöse und fragt wie immer: „Wie war die Nacht?“ Ein neuer Tag in der Zeltstadt beginnt.

* Die meisten der von uns befragten Flüchtlinge wollen aus persönlichen Gründen nur mit Vornamen in der Zeitung erscheinen.