Türkei: Visa-Anträge sollen erleichtert werden Foto: dpa

Seit langem verlangt die Regierung in Ankara, dass die EU den Visa-Zwang für Türken kippt. Nun ist die Türkei diesem Ziel einen Schritt näher gekommen. Sie verpflichtet sich ihrerseits dazu, illegal in die Europäische Union eingereiste Menschen wieder aufzunehmen.

Stuttgart/Ankara - Das tagelange Anstehen vor der deutschen Botschaft am Atatürk Boulevard 14 in Ankara könnte bald ein Ende haben. Zwar sind schon seit September 2012 Antragsunterlagen für Schengen-Visa grundsätzlich in die Büros einer Firma ausgelagert, wenn es um einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten, also um Besuchs-, Tourismus- und Geschäftsreisen, geht. Längerfristige Visa – etwa zur Familienzusammenführung, für Studenten oder zur Arbeitsaufnahme – können aber weiter nur in der Botschaft oder in den Generalkonsulaten beantragt werden. Der Weg nach Europa – für viele Türken bleibt er noch versperrt.

Recep Tayyip Erdogan weiß, dass ihn viele in- und außerhalb der Türkei verdächtigen, die Lust an Europa verloren zu haben. Ihnen zeigt der türkische Ministerpräsident am Montag, dass ihm Europa sehr wohl am Herzen liegt – im wahrsten Sinn des Wortes. In Ankara zieht er ein Papier aus der Innentasche seiner Anzugjacke: „Das ist eine Liste mit dem aktuellen Stand der Verhandlungen mit der EU. Ich trage sie immer bei mir.“

Erdogan legt sein Europa-Bekenntnis an einem Tag ab, der ein Wendepunkt in den türkisch-europäischen Beziehungen sein könnte. Mit der Unterzeichnung des Rückübernahmeabkommens zur Flüchtlingspolitik starten beide Seiten Gespräche über Reiseerleichterungen für Türken – und gehen damit zwei Lösungen an, die ihr Verhältnis grundlegend verbessern dürften.

72 000 illegale Einwanderer

Die EU ist in der Flüchtlingspolitik auf türkische Hilfe angewiesen. Jährlich reisen mehrere zehntausend Flüchtlinge aus Nahost, Asien und Afrika über die Türkei nach Griechenland und damit in die EU ein. Im vergangenen Jahr zählte die europäische Grenzpolizei Frontex rund 72 000 illegale Einwanderer. Jeder zweite von ihnen kam über in Griechenland. Nun verpflichtet sich die Türkei, alle Flüchtlinge wieder aufzunehmen, die über ihr Gebiet in die EU gelangen. Das könnte die Flüchtlingszahl in Europa stark verringern.

Aber auch die Türkei verschafft sich durch ihr Entgegenkommen ein wichtiges EU-Zugeständnis. Der Visumzwang brennt den Türken seit langem auf den Nägeln. Mit den neuen Gesprächen eröffnet die EU Reiseerleichterungen und eine völlige Abschaffung der Visumpflicht. Erdogan versucht, die beim Thema Visum noch immer nervösen Europäer zu beruhigen. Schließlich befürchtet nicht nur die CSU nach wie vor, dass ohne Visumzwang die EU von arbeitssuchenden Türken überrannt werden könnte. Das sei nicht so, versichert Erdogan. Der starke Wirtschaftsaufschwung habe dafür gesorgt, dass die Türkei kein Land mehr sei, „aus dem man flieht, sondern eines, in das man zurückkehrt“. Seine Regierung habe seit 2002 rund sieben Millionen neue Jobs geschaffen: „Wir kommen nicht, um Last zu sein, sondern um Lasten zu schultern.“

Baden-Württembergs Integrationsministerin Bilkay Öney will zunächst abwarten, wie die Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei verlaufen. „Angepeilt ist ein drei bis dreieinhalbjähriger Prozess. Laut EU gibt es keinen Zeitplan. Ich selbst habe mich für Visumserleichterungen für Unternehmer beim Auswärtigen Amt eingesetzt“, sagt die Sozialdemokratin unserer Zeitung.

Lob von türkischstämmigen Unternehmern aus Stuttgart

Öney hatte 2011 für Schlagzeilen gesorgt, als sie mit der Aussage zitiert wurde: „Je mehr Türken wir im Lande haben, desto mehr Unruhe haben wir.“ Damals hatte sie die Aufhebung des Visa-Zwangs für Türken als nicht vordringlich bezeichnet und war von deutsch-türkischen Vereinen kritisiert worden.

Murat Altuntas, Geschäftsführer des Unternehmerverbands Self, dem rund 200 überwiegend türkischstämmige Unternehmer aus der Region Stuttgart angehören, findet den Beginn der Verhandlungen gut: „Beide Seiten würden profitieren.“ Noch immer hielten die hohen Einreise-Hürden viele türkische Unternehmer von Investitionen in Deutschland ab. „Im vergangenen Jahr wollte ein türkischer Geschäftsmann aus der Bergbaubranche nach Deutschland reisen, um für eine Million Euro Maschinen zu kaufen. Obwohl er von einer Behörde im Saarland eingeladen worden war, erteilte die Botschaft in Ankara erst nach acht Monaten das Visum“, berichtet Altuntas, ein studierter Betriebswirt. Bis dahin habe sich der Unternehmer längst in Asien investiert.

„Ich hoffe, dass es nicht läuft wie bei den Beitrittsverhandlungen, die immer wieder hinausgezögert werden. Wenn in drei Jahren die Visumspflicht für Geschäftsleute wegfallen würde, wäre das ein Erfolg“, sagt Altuntas. Doch er hofft auch auf Freizügigkeit für privat Reisende. Befürchtungen, es könnte zu einem Ansturm von Wirtschaftsflüchtlingen kommen, teilt er nicht. „Vor zehn Jahren waren solche Bedenken noch berechtigt. Aber zurzeit ist der Trend eher gegenläufig: Immer mehr akademisch ausgebildete Deutschtürken wandern in die Türkei ab.“

Begehrter Handelspartner

Die Verhandlungen zwischen der Türkei und der EU waren durch ein beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängiges Verfahren verlangsamt worden. Doch nach dem Spruch des Gerichtshofs im September, wonach türkische Staatsangehörige – im Unterschied etwa zu Serben – nicht visumfrei in die EU-Kernstaaten einreisen können, nahmen die Verhandlungen wieder Fahrt auf. Der Stuttgarter Anwalt Rolf Gutmann, der die Türkin Leyla Demirkan, der 2007 ein Visum verweigert worden war, vor dem EuGH vertreten hatte, sagt: „Dass Waren frei verkehren können, nicht aber Firmenvertreter zu Kunden und Messen reisen dürfen, stellt einen erheblichen Wettbewerbsnachteil dar.“ Er geht davon aus, dass das Visumabkommen „zur Ausstellung besonderer Pässe nur für Geschäftsleute führen wird, die dann ebenso wie diplomatisches Personal frei einreisen können“.

Auch die Industrie- und Handelskammer (IHK) Baden-Württemberg begrüßt die in Aussicht gestellten Reiseerleichterungen. „Wir sehen die Chance, den Handel zwischen unseren Ländern weiter auszubauen“, sagt ihr Sprecherin Stefanie Thimm. Die Türkei steht auf Platz 17 der wichtigsten baden-württembergischen Zielmärkte. Zurzeit unterhalten 1663 Firmen geschäftliche Beziehungen – davon exportieren 1370 Güter in die Türkei. Die baden-württembergischen Ausfuhren in die Türkei haben sich seit 1990 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes nahezu vervierfacht. Innerhalb von zwei Jahrzehnten wuchs der Wert der exportierten Waren von 640 Millionen auf 2,46 Milliarden Euro. „Im Zeitraum zwischen Januar und September dieses Jahres hat die Ausfuhr in die Türkei noch mal um 6,2 Prozent im Vergleich zu Vorjahr angezogen“, sagt Stefanie Thimm.