Aus der Silhouette der Stadt Genf, vom gleichnamigen See aus gesehen, ragen die Türme der Kathedrale Saint-Pierre markant heraus. Foto: Susanne Hamann

Wer den wichtigsten Reformator nach Martin Luther verstehen möchte, muss nach Genf. Dort finden sich selbst nach 500 Jahren noch viele Spuren Jean Calvins. Die Genfer waren von dem Franzosen nicht restlos begeistert, und haben ihm doch viel zu verdanken – zum Beispiel die Uhrenindustrie. Die Geschichte einer Hassliebe.

Genf - Ein schmales Gesicht mit spitzer Hakennase, der Blick streng und durchdringend. Auf dem Kopf die im 16. Jahrhundert angesagte Bandhaube mit Barett. Dazu ein langer Zottelbart, wie er heute bei Hasspredigern Mode ist – sympathisch sieht Jean (Johannes) Calvin nicht aus. „Jeder Mensch ist ein Kind seiner Zeit und der Umstände, in denen er lebt“, sagt Evelyn Riedener-Meyer diplomatisch. Die 66-jährige Kunsthistorikerin ist Calvin-Expertin und führt Touristen auf dessen Spuren durch Genf. Viele Besucher interessieren sich für die Reformation und deren umstrittene Lichtgestalt. Und auch die, die sich lieber das Uhrenmuseum oder das Hauptquartier der Vereinten Nationen ansehen, stoßen irgendwann auf Jean Calvin. Denn ohne ihn wäre all das nicht denkbar.

Calvin (1509–1564) gilt nach dem Deutschen Martin Luther (1483–1546) als wichtigster Kopf der Reformation. Der Franzose wirkte in Genf. Doch warum dort? „Purer Zufall, er blieb auf der Durchreise hängen“, erzählt Evelyn Riedener-Meyer. Jean Calvin stammt aus Noyon nördlich von Paris und war Jurist – kein Theologe wie Luther. Als Anhänger der neuen evangelischen Frömmigkeit musste er aus seiner Heimat fliehen und ging ins Exil nach Basel. 1536 wollte er nach Straßburg umsiedeln. Vorher ging es nach Hause, um mit seinen Brüdern das väterliche Erbe aufzuteilen. Auf der Rückreise musste er einen kriegsbedingten Umweg nehmen, machte in Genf Station – und blieb. Vorerst. Dazu überredet hatte ihn Guillaume Farel, bis zu Calvins Eintreffen Kopf der Genfer Reformation. Farel hoffte, gemeinsam mit dem durch seine klugen Schriften bekannten Franzosen den neuen Glauben weiter in der Stadt zu festigen.

Calvin und sein Freund Farel flogen in hohen Bogen aus der Stadt

Doch die Sache ging schief. Denn Calvin – der gestrenge Gesichtsausdruck verrät es – dachte nicht nur messerscharf, sondern handelte auch kompromisslos. Er gilt als sittenstreng, nachgerade radikal. Mit harter Hand versuchte er, die Menschen zum Glauben zu zwingen. Das kam bei den Genfern nicht gut an: 1538 flogen Calvin und sein Freund Farel in hohem Bogen raus. Drei Jahre später waren sie wieder da und durften bleiben. Denn zu diesem Zeitpunkt beanspruchte auch der von den Reformatoren vertriebene katholische Bischof die Stadt wieder für sich. Da schien der hagere Franzose das kleinere Übel. Calvin gelangte so auch zu politischer Macht.

Manche Spuren kann man noch 500 Jahre später finden. Die meisten davon in der Altstadt, die auf einem für Schweizer Verhältnisse kleinen Berg liegt. Nur wenige Meter lang ist die kopfsteingepflasterte, schmale Gasse namens Rue Jean Calvin. „Früher hieß sie Rue des Chanoines, Straße der Domherren“, erzählt Evelyn Riedener-Meyer. 1860 wurde das Sträßlein zu Ehren des früheren Bewohners von Haus Nummer 11 umgetauft.

Nur einen Steinwurf entfernt liegt das Collège Calvin. Die Schule der Sekundarstufe II wurde 1559 gegründet. Sie gehört heute zu den ältesten öffentlichen Schulen der Welt. Besonders viele Zeugnisse Calvins sind im Musée Internationale de la Réforme versammelt. 2005 wurde das Museum für den Protestantismus gegründet und seither mehrfach ausgezeichnet. Darin finden sich Erstausgaben von Calvins Schriften, verschiedene Bibelübersetzungen, Manuskripte, Bilder und Gegenstände, die angeblich Calvin gehört haben. In der Kathedrale Saint-Pierre nebenan steht sogar ein Stuhl, auf dem er gesessen haben soll. Ob’s stimmt? Alles eine Frage des Glaubens.

Unter Calvin wurde Genf zum „protestantischen Rom“

„Theologisch hat er wenig Neues gebracht. Als seine große Leistung gilt, dass er die Ideen seiner Vordenker weiterentwickelt und perfektioniert hat“, erklärt Marlyse Bledi, ebenfalls Fremdenführerin und Calvin-Fachfrau. Immerhin erfand der Franzose eine nach ihm benannte religiöse Lehre. Der Calvinismus machte rund um den Globus Karriere, etwa 80 Millionen reformierte Christen weltweit berufen sich heute auf ihn.

Während seiner Regentschaft wurde Genf zu einem Zufluchtsort für Anhänger der Reformation, die in ihren Herkunftsländern verfolgt wurden. Marlyse Bledi deutet auf die obersten Stockwerke der Häuser in der Altstadt: „Diese niedrigeren Etagen wurden nachträglich aufgesetzt, um Wohnraum für all diese Menschen zu schaffen“, erklärt die Fremdenführerin. Die Flüchtlinge – meist Pfarrer, Gelehrte, Ärzte, Kaufleute, Bankiers, Handwerker – brachten ihr Wissen und Können mit. Sie verhalfen der Stadt zu wirtschaftlicher Blüte. Aus dem eher unbedeutenden Provinznest wurde ein intellektuelles Zentrum, auch „protestantisches Rom“ genannt.

„Und man denke nur an die Uhrenindustrie und das Bankwesen“, sagt Marlyse Bledi. Dass sich diese beiden Wirtschaftszweige ausgerechnet in der Schweiz prächtig entwickelten, hat auch indirekt mit Calvin zu tun. Fleiß, Disziplin und Erfolg im Diesseits sind nach der Auffassung des Reformators eine Art Fahrschein ins Himmelreich. Daher gilt er als spiritueller Vater des Kapitalismus. Seine Lehre machte die Genfer reich, den Reichtum wiederum sollten sie aber nicht zeigen. Denn Calvin hielt Schmuck für überflüssigen Tand. Uhren hingegen messen die Zeit und haben so einen praktischen Nutzen. Also konzentrierten sich die in Genf ansässigen Goldschmiede auf die Produktion von Chronometern.

Kompromisslos wie ein Ayatollah

In der Forschung ist Calvin umstritten, und auch zu Lebzeiten hatte er nicht nur Freunde. Der Reformator gilt als kompromisslos wie ein Ayatollah. Er verbot quasi alle Freuden des Lebens, propagierte harte Arbeit und installierte einen Überwachungs-Gottesstaat. Mit alttestamentarischer Strenge ließ er foltern und sogar Todesurteile vollstrecken. Viele Genfer wünschten ihn zum Teufel, vor allem mit den Reichen lag er über Kreuz. Übrigens soll er die Stadt an der Rhone auch nicht besonders gemocht haben. Dennoch blieb er – weil er es für eine Art göttlichen Auftrag gehalten hatte.

1909, zum 400. Geburtstag des Reformators, spendierte ihm die Stadt ein monströses Denkmal. Die Reformationsmauer erstreckt sich über beeindruckende 100 Meter entlang des ehemaligen Befestigungswalls am Fuß des Altstadthügels. In der Mitte überlebensgroß und mächtig: Calvin und seine drei Vertrauten Guillaume Farel, Theodore Bezé und John Knox. Martin Luther und der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli bekamen je nur einem mannshohen Steinquader am Rand.

Calvin wäre das bestimmt nicht recht gewesen. Der Prophet der Ehre Gottes wollte nicht verehrt werden. Deshalb ließ er sich auch ohne Zeugen und Trauerfeier an einem unbekannten Ort beisetzen. Evelyn Riedener-Meyer hat dennoch einen Tipp: „Calvins Grab befindet sich auf dem ehemaligen Pestfriedhof, dem Cimetière des Rois im Stadtteil Plainpalais. Man weiß aber nicht, wo genau.“

Das Wahrzeichen der Stadt ist eine Wasserfontäne

Käme Calvin im Jahr 2017 nach Genf, wäre er wohl entsetzt. So viel Trubel und Lebensfreude, so viel Luxusboutiquen und Fresstempel. Genf gilt heute als kulinarische Hauptstadt der Schweiz. Hier weiß man zu genießen. Beim ersten Sonnenstrahl stellen die Wirte Tische und Stühle vor die Tür. Schon mittags wird draußen getafelt, auch unter der Woche mehrere Gänge plus Wein. An der Stelle des Gasthauses in der Rue de la Croix d’Or, in der Calvin 1536 sein erstes Quartier in Genf bezog, befindet sich heute ein Fachgeschäft für Unterwäsche.

Als Wahrzeichen der Stadt gilt eine Fontäne, die das Wasser des Genfer Sees 146 Meter in die Höhe schießt. Der Jet d’Eau ist sinnlos, aber schön – vor allem, wenn der Sprühnebel des herabfallenden Wassers einen Regenbogen an den Himmel malt. Und auf der Wiese vor der Reformationsmauer chillen Studenten der Universität. Von den strengen Blicken der Steingestalten lassen sie sich nicht stören.

Hinkommen, Unterkommen, Rumkommen

Anreise

Mit dem Auto über Zürich und Bern, ab Stuttgart ca. 5,5 Stunden Fahrt. Mit dem Zug via Karlsruhe, Basel und Biel oder via Karlsruhe und Olten nach Genf, www.bahn.de, www.sbb.ch.

Unterkunft

Auf einer aktuellen Liste der Städte, in denen Hotelübernachtungen besonders teuer sind, liegt Genf mit einem Durchschnittspreis von 245 Schweizer Franken pro Nacht auf Platz sechs – weltweit. Wegen der vielen Geschäftsreisenden sind Übernachtungen an Werktagen besonders kostspielig. Am Wochenende kann man Schnäppchen machen. Mitten im Künstlerviertel Des Bains und in Fußweite zur Altstadt liegt das im Jugendstil gehaltene Hotel Tiffany. Die 46 Zimmer des privat geführten Vier-Serne-Hauses sind liebevoll eingerichtet. Doppelzimmer ab 210 Schweizer Franken ohne Frühstück, www.tiffanyhotel.ch.Auf der rechten Rhone-Seite befinden sich zwei neue, angesagte Hotels: das zeitgenössisch-moderne Eastwest Hotel (DZ ab 258 Schweizer Franken, www.eastwesthotel.ch/de) und das hippe Hotel N’vY (DZ ab 175 Schweizer Franken, www.hotelnvygeneva.com). Wer in einem Hotel, einer Jugendherberge oder auf einem Campingplatz im Kanton Genf übernachtet, erhält die „Geneva Transport Card“ kostenlos und kann den Nahverkehr während des Aufenthalts gratis nutzen.

Zur Feier des Jahrestages der Reformation hat Genf Tourismus ein spezielles Wochenendpaket aufgelegt. Dieses umfasst eine Hotelübernachtung, Eintritt ins Reformationsmuseum, eine Führung durch die Altstadt sowie die kostenlose Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel, www.geneve.com/de/special-offer-detail-de/reformations-wochenendpaket-TDS00020010776408393/

Essen und Trinken

Gutbürgerliche Küche mit Schweizer Klassikern wie Zürcher Geschnetzeltes sowie französische Spezialitäten serviert die Brasserie de l’Hotel-de-Ville, www.hdvglozu.ch.

Entspannt speisen mit Blick auf den Parc des Bastions: Le Café Papon, www.cafe-papon.com/en

Für einen schnelle Kaffee und einen Snack empfiehlt sich das coole Café Birdie im Stadtviertel Des Bains, www.birdiecoffee.com.

Einen tollen Blick auf die Stadt und den See hat man von der Terrasse der Bar Floor Two im Hotel Kempinski, www.kempinski.com/de/geneva/grand-hotel-geneva/dining/floor-two-lounge/

Reformation

Das Musée Internationale de la Reforme (Internationales Reformationsmuseum, kurz MIR) Genf feiert den 500. Jahrestag der Reformation mit einer interaktiven Ausstellung namens „Print!“. Vom 4. Juni bis zum 31. Oktober 2017 wird auf einer eigens nachgebauten Gutenbergpresse jeden Tag eine Seite einer zeitgenössischen französischsprachigen Bibelübersetzung gedruckt. Damit sollen nicht nur Martin Luther und Jean Calvin, sondern auch die Erfindung des Buchdrucks gewürdigt werden. Geöffnet Di.–So. 10–17 Uhr, Eintritt 13 Schweizer Franken, Kinder zahlen 6 Franken. www.musee-reforme.ch.

Mit dem Geneva Pass ist der Einritt zu diesem und vielen weiteren Museen gratis. Preis für einen Tag: 26 Franken. Weitere Informationen unter www.gene.com/en/see-do/geneva-pass

Genf Tourismus hat den Faltplan „Auf den Spuren der Reformation“ herausgegeben. Erhältlich im Geneva Tourist Information Office, Rue du Mont-Blanc 18, Genf, oder unter www.geneve.com/de.

Zum Thema „Die Reformation in Genf“ finden vom 1. Juli bis zum 31. August jeden Freitag öffentliche Führungen statt. Auf Französisch (10.30 Uhr) und Englisch (14 Uhr). Treffpunkt beim Tourismusbüro, Preis: 15 Schweizer Franken, kostenlos mit dem Geneva Pass.Private Führung auch auf Deutsch nach Voranmeldung bei Geneva Tourism unter info@geneve.com oder per Telefon +41 22 909 70 00.

Weitere Fremdenführer unter www.guides-geneve.ch

Das komplette Veranstaltungsprogramm rund um das Thema Reformation ist hier zusammengefasst: www.geneve.com/de/sehenswertes/500-jahre-reformation/

Aktivitäten

Alles über die Geschichte der Uhrmacherkunst erfährt man im Musée Patek Philippe (benannt nach der gleichnamigen Marke). Das Uhrenmuseum hat Di.–Fr. 14–18 Uhr und Sa. 10–18 Uhr geöffnet, Eintritt: 10 Franken für Erwachsene, Kinder frei, www.patekmuseum.com.

Wer sich für Gegenwartskunst interessiert, sollte das Mamco besuchen. Das Musée d’Art Moderne et Contemporain zählt Arbeiten von Christo, Martin Kippenberger, Jenny Holzer, Dan Flavin, Sarkis, Franz Erhard Walther, Sylvie Fleury und vielen anderen zu seinem Bestand. Geöffnet Mo., Mi.–Fr. 12–18 Uhr, Sa./So. 11–18 Uhr, Eintritt für Erwachsene 6 Franken, Kinder frei, www.mamco.ch.

Außerhalb der Stadt wird im Cern, dem weltgrößten Forschungszentrum auf dem Gebiet der Teilchenphysik, geforscht. Der Eintritt zur Dauerausstellung „Universum der Partikel“ ist frei. Geöffnet Mo.–Fr. 8.30–17.30 Uhr, Sa. 9–17 Uhr, http://visit.cern.

Ein besonderes Erlebnis ist eine Schifffahrt auf dem Genfer See. Die Gesellschaft CGN hat eine Flotte von historischen Belle-Époque-Raddampfern im Einsatz, Baujahr 1904 bis 1927. Einfache Rundfahrt ab Genf, Haltestelle Mont-Blanc (Dauer 55 Minuten): Ticket für Erwachsene 16 Franken, Kinder zahlen 8 Franken. Auf abendlichen Touren kann man an Bord auch essen. Gourmetkreuzfahrt ab 49 Franken, Raclette-Kreuzfahrt ab 29 Franken, zuzüglich Ticket und Getränken, www.cgn.ch/de.

Allgemeine Informationen

Eine gute Orientierung bietet die kostenlose und auch ohne Internetverbindung nutzbare Smartphone-App „Swiss City Guide Geneva“, erhältlich im App Store, Google Play Store oder unter www.myswitzerland.com/en/city-guide-geneva-app.htmlSchweiz Tourismus, www.myswitzerland.com