Ende Mai wird Reid Anderson das Programm seiner letzten Spielzeit als Intendant des Stuttgarter Balletts präsentieren (Archivfoto). Foto: dpa

Vom Tänzer zum Intendanten: Am Samstag wird im Opernhaus die neu erschienene Biografie Reid Andersons vorgestellt.

Stuttgart - In Stuttgart kennt man ihn als einen, der seinen Mann steht, der weder schweren Hebungen noch Entscheidungen aus dem Weg geht. 1969 kam Reid Anderson hier als Tänzer an – und hat sich als Onegin, als Petrucchio und in vielen anderen großen Rollen John Crankos eingeprägt. Er war William Forsythes Galilei und Apollo, für den jungen Uwe Scholz gab er den Zeus.

Mächtig zupacken musste Reid Anderson auch, als er nach einem Abstecher als Ballettdirektor in Kanada – erst in British Columbia, dann in Toronto – 1996 nach Stuttgart zurückkehrte, um hier eine Kompanie zu übernehmen, die Verjüngung verlangte und ihrem neuen Intendanten Kündigungsgespräche mit ehemaligen Weggefährten zumutete.

Als Entscheider, aber auch als Entertainer ist Reid Anderson in Stuttgart bekannt. Mit einem Mikrofon in der Hand füllt er jede Bühne, egal wie groß sie ist. Sogar eine an und für sich spröde Veranstaltung wie die jährliche Spielplankonferenz der drei Staatstheater-Sparten lockert sich, wenn der Ballettintendant auf die kommende Saison blickt.

Schaffe, schaffe, Häusle bauen: Reid Anderson ist ein Wahl-Schwabe

Wie Reid Anderson zu dem wurde, was er ist, meint man in Stuttgart ziemlich genau zu wissen. Schließlich ist der am 1. April 1949 in New Westminster geborene Kanadier seit vergangenem Jahr nicht nur Deutscher, sondern schon längst ein Schwabe. Was ein Satz wie der folgende beweist, mit dem der junge Tänzer seine Ausbildung kommentierte: „Sehr wichtig war die Disziplin. Sie lässt dich härter arbeiten. Du lernst, wann und wie du dich selbst pushen musst.“

Schaffe, schaffe, heißt das auf schwäbisch, und das tun Tänzer von ganz alleine. Aber dann noch ein Häusle bauen? Das ist eher ungewöhnlich. Mit dem Neubau für die Cranko-Schule, der auch dem Stuttgarter Ballett neue Perspektiven eröffnen soll, krönt Reid Anderson, der demnächst seine letzten Saison als Intendant vorstellen wird, auf sehr schwäbische Weise sein Lebenswerk.

Und während die Gebäude oberhalb des Wagenburgtunnels aus dem Boden wachsen, wird unten im Opernhaus der Abschied von dem Mann vorbereitet, der dieses Ballettzentrum vorangetrieben hat. Den Anfang vom Ende der Ära Anderson läutet die nun im Henschel-Verlag erschienene Biografie „Reid Anderson. Having It“ ein. Die Tanzpublizisten Gary Smith und Angela Reinhardt beleuchten aus kanadischer und deutscher Sicht Andersons Weg. „Vom Tänzer zum Intendanten“ heißt das Buch im Untertitel; seinen Titel verdankt es einem Ausspruch John Crankos über das „gewisse Etwas“, das man hat oder nicht – kriegen kann man es jedenfalls nicht.

Der Intendant fördert talentierte Choreografen

Reid Anderson hat es. Und er spürt es in anderen. Das zeigt nicht nur die Riege von acht jungen Ballettdirektoren „made by Reid Anderson“, die ihren Mentoren auf einem der letzten Fotos im Buch umringen. In jungen Tänzern entdeckt er mehr, als diese selbst ahnen; Bilder und Text lassen noch einmal viele Anfänge Revue passieren, von Friedemann Vogel und Bridget Breiner, von Jason Reilly, Alicia Amatriain und anderen.

Auch das Talent von Choreografen erkennt und fördert er, das von Marco Goecke etwa, wie sich Anderson im Kapitel „Um die Ecke gehen – die Hauschoreografen“ erinnert. „Unsere Welt ist umgepflügt worden durch Marco“, sagt der Intendant, der den Wuppertaler 2005 an seine Kompanie bindet. Denen, die sagen, ein Goecke-Ballett sehe immer gleich aus, entgegnet Anderson: „Es ist so, wie wenn man große Kunst anschaut, ständig und jahrelang, im Prado oder in London oder so. Man schaut es an und sieht immer etwas anderes. Ja, es ist alles Marco-esk. Aber es ist Marco-esk, nicht Forsythe-esk oder Kylián-esk.“

Schon als Junge hatte Anderson das gewisse Etwas

Solche Zitate sind schöne Fundstücke auf einem Weg, den die Biografie mit vielen Bildern und noch mehr Text brav abschreitet. Spannend aus Stuttgarter Sicht ist sie da, wo sie Neuland eröffnet wie beim Blick auf Andersons Jahre als Direktor des kleinen, 1984 neu gegründeten Ballet British Columbia. Wie ein Fotoalbum lässt „Having It“ Reid Andersons Kindheit entdecken – und vom ersten Bild an begegnet man einem Jungen, der das gewisse Etwas hatte, der wusste, wohin er wollte, auch wenn Ballett zu tanzen nicht das war, was man von einem richtigen Kerl damals erwartete. Dass alles als Glühwürmchen mit glitzernden Fühlern, leuchtendem Hinterteil und einzigem Jungen unter Mädchen begann? Schwer vorstellbar, wenn man den Ballettintendanten vor Augen hat. Aber im Smoking mit seiner jüngeren Schwester Susan im Arm war der kleine Reid als Mini-Standardtänzer, der später auch in Musical und Schauspiel erfolgreich war, früh in seinem Element und auf vielen Bühnen begehrt.

Schon als Kind wurde Reid Anderson also das, was er heute ist: einer, der mit Disziplin übt, bis alles sitzt; einer, dem die Verantwortung gegenüber Partnern und Publikum nicht Last, sondern Lust ist. An eine glückliche Kindheit mit Festen und gemeinsamen Fernsehabenden erinnert sich Reid Anderson deshalb; an Eltern, die ihn immer unterstützten, an die Mutter, die bis morgens Kostüme für ihn nähte. Das mag Anderson, den Ermöglicher, nachhaltig geprägt haben. Und noch einem ist aus Stuttgarter Sicht zu danken: Frederick Ashton, dem damaligen Direktor des Royal Ballet in London, der den jungen Kanadier 1968 nach der Ausbildung nicht übernehmen wollte, weil er ihm zu groß war. „Ich war am Boden zerstört, als nichts daraus wurde“, erinnert sich Anderson, „ich dachte, alles sei zu Ende.“ Dabei war es erst der Anfang.