Frank Castorf inszeniert Charles Gounods „Faust“. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Zu seinem erzwungenen Abschied von der Volksbühne und zur Berliner Kulturpolitik will Frank Castorf nichts sagen. Stattdessen begeistert sich der Regisseur für Charles Gounods „Faust“, den er gerade an der Oper Stuttgart inszeniert.

Stuttgart - An Gounods 1859 uraufgeführter „Faust“-Oper reizt den oft als „Stückezertrümmerer“ bezeichneten Regisseur Frank Castorf vor allem die schöne Fassade. Sie will er brechen, indem er ihr das Kolorit ihrer Entstehungszeit entgegensetzt.

Herr Castorf, warum inszenieren Sie ausgerechnet Gounods „Faust“, also eine Oper, in der Goethes Vorlage auf eine Liebesgeschichte reduziert wird?
Ganz schlicht: Diese Inszenierung war ein Auftrag. Wobei ich für den Stoff natürlich schon eine Leidenschaft hege, und an der Berliner Volksbühne werde ich mich noch in dieser Spielzeit in einer Inszenierung von „Faust II“ intensiv mit dem beschäftigen, was die Welt im Innersten zusammenhält. So gesehen ist Gounods Oper für mich schon ein Appendix von dem, was der Nationalmythos „Faust“ für die Deutschen darstellt – in seiner französischen Abartigkeit.
Sie meinen nicht: Abart?
Nein. Goethes Stück ist ein Monstrum und endet im zweiten Teil ähnlich surreal wie Karl Marx’ „Kapital“. Auch der Ausdruck ist vergleichbar, und es gibt eine ähnlich rhapsodische Dramatik. Goethe hat sechzig Jahre am „Faust“ geschrieben, mit jedem Altersjahr wird für ihn Helena, die Figur der Vergangenheit, immer gegenwärtiger und steht für all das, was der alte Mann nicht mehr realisieren kann: Triebhaftigkeit vor allem, Liebe. In Gounods Oper wird Goethes Titelfigur zu einem Bourgeois namens Faust, der angesichts der Verlockungen des Pariser Alltags der 1850er bis 1870er Jahre, also des zweiten Kaiserreiches, kein Ideal mehr herbeisehnt, keine Wissenschaft oder Forschung, sondern nur Gretchen.
Also gibt’s das bei Gounod nicht: Goethes „Das ewig Weibliche zieht uns hinan“?
Nein, hier lässt einfach der Hintern der Frau den Mann nicht los, und so erfüllt ihm Mephisto seinen größten Wunsch, nämlich wieder jung zu sein und triebhaft zu genießen. Wie oft im zweiten Kaiserreich Frankreichs gibt es in Gounods Stück viel Neo-Katholizismus, außerdem eine Vermischung von Welt und Halbwelt, wo sich das Bürgertum mit den Kriminellen, den Grisetten und den Mächtigen des Geldadels mischt. Man muss sich daran erinnern, dass zur Entstehungszeit dieser Oper das heutige Stadtbild von Paris entsteht: diese breiten Magistralen, die Georges-Eugène Haussmann baute, weil man den Revolutionen und Barrikaden Einhalt gebieten wollte. Ähnliche Ideen hatte übrigens auch Hitlers Chefarchitekt Albert Speer.
Wie viel Zeitpanorama fließt in Ihre Inszenierung ein?
Gounod lebte im Paris der Kommune. Dort strolchte auch Arthur Rimbaud mit seinem doppelt so alten Freund Verlaine herum, der zu Hause eine junge Frau hatte. Auch das ist ein Dreiecksverhältnis wie zwischen Faust, Mephisto und Margarethe. Rimbaud brandmarkt in seinen Gedichten, von denen wir einige auf die Bühne projizieren werden, den Zustand der Demokratie und ihren merkantilen Charakter. Dieser Hintergrund ist wichtig. Margarethe ist kein jungfräuliches Geschöpf am Spinnrad wie bei Goethe, sondern eine Frau der Halbwelt, die sich nach Luxus sehnt - nicht umsonst ersetzt Gounod Goethes Flohlied mit dem Rondo vom Goldenen Kalb.
Sind das die Stachel, die Sie Gounods leichter Musik beigeben?
Diese Oper ist extrem interpretationsbedürftig. Und das führt dann unter anderem dazu, dass wir beim Vorspiel den Teufel sehen, der seine Lippen bewegt und Dinge äußert, die tatsächlich aus seinem Kopf hätten kommen können, aber beim jungen Rimbaud zu lesen sind in einem Gedicht mit dem Titel „Demokratie“. Dessen Text ist verblüffend. Und die neuen Boulevards, die nichts mehr mit dem Dreck des mittelalterlichen Paris zu tun haben, gebären die Figur des Flaneurs. Faust ist ein Flaneur. Er hat eben nur das Problem hat, dass seine Knie nicht mehr richtig funktionieren. Er geht an den Schaufenstern von Dolce & Gabbana vorüber, aber das alles passt eigentlich nicht mehr zu ihm.