Rainer Ausborn hat seinem kleinen Bruder eine Niere gespendet. "Für mich hat sich dadurch nichts geändert", sagt er. Für seinen Bruder jedoch alles. Genau wie für ... Foto: dane

Roland Buck und Rainer Ausborn haben beide nur eine Niere und eine völlig andere Geschichte.

Stuttgart – Es war der 25. März 2007, an dem ein Leben zu Ende ging und ein anderes neu begann. Roland Buck hat sich dieses Datum unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Nach neun Jahren Dialyse bekommt er den lang ersehnten Anruf aus dem Krankenhaus. Eine Niere von einem verstorbenen Spender sei für ihn bereit.

Auf dem Weg von seinem Zuhause in Marbach am Neckar ins Hospital kann Roland Buck keinen klaren Gedanken fassen. „Ich war so überdreht und aufgekratzt“, erinnert er sich. „Gleichzeitig war mein Kopf leer.“ Roland Buck versucht die Euphorie klein zu halten. Schon einmal hatte er sich zu früh auf ein neues Leben gefreut. Die Enttäuschung hat den „sturen Holzkopf“, wie er sich selbst nennt, „der immer oben schwimmt“ beinahe untergehen lassen.

Die Niere ging damals nach Tübingen. „Kinder und Schwerstkranke werden zuerst berücksichtigt“, erklärt Buck knapp und nippt an seinem Kaffee. Dabei erinnert er sich an die Banane zurück, in die er damals nach der gelungenen Transplantation und den Tagen auf der Intensivstation genussvoll gebissen hat. „Nichts in meinem Leben hat mir je besser geschmeckt“, sagt er und blinzelt dabei lächelnd ins Sonnenlicht. Es war die erste seit vielen Jahren. Standen Nüsse und Bananen wegen ihres hohen Kaliumgehalts doch nicht gerade ganz oben auf Roland Bucks Speiseplan. Vor allem auf Cola, sein Lieblingsgetränk konnte der heute 48-Jährige nur schwer verzichten. Wurde er schwach, musste Buck mit Juckreiz und Abgeschlagenheit kämpfen. „Ich durfte nicht mehr als einen Liter Flüssigkeit am Tag zu mir nehmen.“ Andernfalls zieht sich die manches Mal schmerz- und oft zeitintensive Dialyse noch mehr in die Länge.

Wenig Wasser trinken wird im Sommer zur Tortur

Der Verzicht auf Wasser wurde vor allem in heißen Sommern zur Tortur, wenn der Nierenkranke mit seinem VW Caddy ohne Klimaanlage unterwegs war. „Doch wenn ich viel geschwitzt habe, hatte es auch ein Gutes, dann durfte ich auch mehr trinken“, sagt Buck, der Optimist. Das sprichwörtliche Glas ist für ihn immer halb voll. Auch während der quälenden Jahre des Hoffens und Bangens auf eine Spenderniere. Buck ist 26 und bei der Bundeswehr in Landsberg stationiert, als er wegen geschwollener Knie- und Sprunggelenke zum Stabsarzt muss. Dessen Diagnose stellte das Leben des jungen Mannes vollkommen auf den Kopf. Er habe nur eine Niere und eine Schrumpfniere bekam Buck zu hören. In ein paar Jahren werde er an der Dialyse hängen, wurde ihm prophezeit.

Nach einem ersten Schock tut Buck, was er immer getan hat, er kämpft. Sieben Jahre lang schafft er es ohne die Blutwäsche im Krankenhaus. Er lebt bewusster, schränkt seinen Fleischkonsum ein, kann auf seine Familie und gute Freunde zählen. Mitleid lehnt er kategorisch ab. Sätze wie „ach Gott, das tut mir aber leid“, lösen bei ihm bestenfalls Trotz aus. „Mir geht es dennoch gut“, entgegnet er. Buck versucht, sein normales Leben aufrechtzuerhalten. Gegen die Müdigkeit verordnet er sich Training im Fitnessstudio. Als Brief- und Paketzusteller bei der Deutschen Post arbeitet er manchmal bis zu 60 Stunden die Woche.

Buck schämt sich für den Schlauch im Bauch

Sein Blut wird anfangs per Peritonealdialyse über das Bauchfell gereinigt. Dazu wird Buck ein steriler Schlauch operativ in die Bauchhöhle eingesetzt. Den Beutel zur Blutreinigung zapft er sich selbst ab. Auch mitten in der Nacht muss er sich dafür den Wecker stellen. Für den 60 Zentimeter langen Schlauch, der zum Vorschein kommt, wenn er den Netzverband ablegt, schämt er sich. Mit einer Frau will er nicht zusammen sein. „Ich habe mich nicht als Mann gefühlt“, sagt Buck. Verbittert klingt er nicht, sondern wie einer, der sein Schicksal angenommen hat. Mehr noch. Buck macht das Beste daraus. Sieht sich im Vergleich zum Leiden anderer gar als begünstigt. „Ich hab im Krankenhaus so viel gesehen. Menschen, die Krebs hatten und geweint haben wie kleine Kinder.“ Buck, der zwischenzeitlich mehrmals in der Woche nach Feierabend rund fünf Stunden an der Dialyse hing, gab sich und die Hoffnung auf eine Spenderniere nicht auf. „Ich habe bloß ein Leben“, sagt er.

Dessen Qualität hat sich nach der Transplantation sehr verbessert. Er konnte Vertrauen zu einer Frau aufbauen. Mit seiner Partnerin will der 48-Jährige eine Familie gründen. Er kann essen und trinken was er möchte, ist frei von Schläuchen, braucht nur noch 16 Medikamente anstelle von vormals 45. Einige davon helfen seinem Körper dabei, die Niere anzunehmen. Angst vor einer Abstoßung hat er rund fünf Jahre nach der Transplantation kaum noch. Doch Buck weiß, dass ein Spenderorgan nicht ewig hält. Zehn, 15, 20 Jahre - eine Regel oder gar ein Mindesthaltbarkeitsdatum gibt es nicht. Wenn seine Spenderniere ihren Dienst versagt, will sich Buck auf jeden Fall wieder auf die Liste setzen lassen. Die ist lang und ob er nochmals als Empfänger in Frage kommt, entscheiden die Ärzte.

Doch Buck denkt nicht an Übermorgen. Er lebt im Hier und Jetzt. Seinem Spender ist er unendlich dankbar. So sehr, dass Worte nicht ausreichen. Gerne hätte er mit den Angehörigen gesprochen. Doch er weiß nur, dass sie oder er 34 Jahre alt wurde. Mehr nicht. Im Wahren der Anonymität des Spenders ist der Gesetzgeber streng.

Dem Bruder eine Niere spenden? Auf jeden Fall!

Rainer Ausborn kennt dagegen den Empfänger einer seiner beiden Nieren ganz genau. Umgehen mit dem überschwänglichen Dank seines drei Jahre jüngeren Bruders Erwin konnte der damals 36-Jährige dennoch nicht. „Dafür hätte es schon seinerzeit psychologische Betreuung geben sollen“, sagt Rainer Ausborn, der nicht damit klar kam, dass sein Bruder ihn fortan auf einen Sockel stellte und als Lebensretter pries. Erst eine klärende Aussprache machte einen normalen Umgang zwischen den beiden wieder möglich.

Angst davor, selbst nierenkrank zu werden und dann nur noch eine Niere zu haben, hatte Rainer Ausborn dagegen nie. „Vielleicht kam mir kurzzeitig mal der Gedanke. Aber letztlich ist es eine Frage des Charakters, wie man damit umgeht.“ Ausborn ist keiner, der lange überlegt. Er macht einfach. Auch als seine Eltern ihm erzählen, dass es Erwin unter der Dialyse überhaupt nicht gut gehe, sich seine Venen entzünden, er immer abgeschlagener, trauriger und zunehmend hoffnungsloser werde, fackelt Rainer Ausborn nicht lang. Er unterzieht sich der vorgeschriebenen, eingehenden Untersuchung, die ihm ein sicheres Gefühl gibt und die Gewissheit, dass er als Spender infrage kommt, da beide Nieren gesund sind.

Nach der Operation ändert sich für Ausborn nichts. Der IT-Fachmann jettet weiter um die Welt. Die einzige Warnung, die die Ärzte dem drahtigen Energiebündel mit auf den Weg geben ist, bei den Scannern am Flughafen acht zu geben. Denn die Röntgenstrahlen könnten dafür sorgen, dass seine Gefäßklammern heiß werden. Bei der Erinnerung daran muss Ausborn schmunzeln. Gerührt ist er dagegen, wenn er davon spricht, wie sich das Leben seines Bruders nach der Transplantation im neu eröffneten Zentrum im Stuttgarter Katharinenhospital vor rund 20 Jahren verändert hat. „Allein seine Freude zu erleben, als er das erste Mal Wasser lassen konnte, war ein sehr schönes Gefühl.“

Sein kleiner Bruder, von dem die Ärzte glaubten, dass er seinen zehnten Geburtstag nicht erleben werde, wird mit 33 Jahren neu geboren. Seine Verbitterung darüber, zwischen den Behandlungen kaum Zeit für Freunde oder gar eine Freundin zu haben, keinen Sport machen zu können und aufgrund seiner Krankheit seinen Job zu verlieren, weicht purer Lebensfreude.

Hoffnungsschimmer für alle, die ohne Spenderorgan sterben

Auch wenn es für Rainer Ausborn keine Frage war, seinem Bruder eine Niere zu spenden, kann der zweifache Papa jene gut verstehen, die damit zögern, Organspender zu werden. „Wer beschäftigt sich denn schon gern mit dem eigenen Tod? Dazu kommen noch all die Gräuelgeschichten von Organhandel und dergleichen“, sagt Ausborn. Dabei müssten zwei Ärzte unabhängig voneinander den sogenannten Hirntod des Patienten bestätigen, bevor es zu einer Organentnahme käme.

Von der Reform des Bundestags in Sachen Organspende hält Ausborn indes nicht viel. „Die meisten werden die Frage der Krankenkasse per Brief mit „nein“ beantworten.“ Viel besser findet er es, nicht aktiv in die Organspende einwilligen zu müssen, wie das in anderen Ländern wie zum Beispiel in Österreich praktiziert wird.

Dass das Thema jedoch immer mehr in den Fokus der Öffentlichkeit rückt, ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, findet Ausborn. Denn Aufklärung könnte potenziellen Spendern Ängste und Zweifel nehmen. „Es ist ein Hoffnungsschimmer für all jene, die verzweifelt auf ein lebensrettendes Organ warten.“