Vier Millionen Menschen in Deutschland gelten als süchtig. Die meisten Erwachsenen greifen zu Alkohol, fast die Hälfte zu Medikamenten. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 25 Jahren ist Cannabiskonsum der Hauptgrund für eine ambulante und stationäre Behandlung. Foto: Fotolia/© alco-81

Rund vier Millionen Bundesbürger gelten als süchtig – darunter viele junge Erwachsene. Um aus ihrer Sucht ausbrechen, brauchen sie Hilfe. Die Rehaklinik Freiolsheim hat daher eine Art Notfall-Telefon für ihre Schützlinge und deren Arbeitgeber entwickelt.

Freiolsheim - Sabrina hat einen eisernen Willen: In der Schule musste sie gut sein. „Das wurde von mir verlangt.“ Also legte sie die Prüfung mit einem Zweier-Schnitt ab. Sie wollte schlank sein. „Das habe ich von mir verlangt.“ Also hungerte sie sich auf 33 Kilo herunter, bei einer Größe von knapp 1,70 Metern. Sie wurde sexuell missbraucht. „Aber ich sollte Stärke zeigen.“ Also hielt sie den Mund. Sie hielt das alles durch, jahrelang – dank Cannabis, Amphetaminen und Methadon. Das hat sie geraucht und geschluckt. „Ich hab’ das einfach gebraucht.“ Seit März ist die 23-Jährige in der Suchtklinik in Freiolsheim im Schwarzwald. Ihr Arbeitgeber glaubt, dass sie ihre Essstörung therapieren will, von ihrer Sucht weiß er nichts. Weil das so bleiben soll, möchte Sabrina ihren richtigen Namen nicht nennen.

Sabrina gehört zu den rund vier Millionen Menschen, die in Deutschland als süchtig gelten. Somit gehört die Sucht nach der Depression zu der zweithäufigsten psychischen Erkrankung. Die meisten Erwachsenen greifen zu Alkohol, fast die Hälfte zu Medikamenten. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 25 Jahren ist laut der Bundesdrogenbeauftragten Marlene Mortler Cannabiskonsum der Hauptgrund für eine ambulante und stationäre Behandlung.

Mit Cannabis rauchen beginnt bei vielen die Sucht

Auch Wolfgang Indlekofer kennt diese Zahlen. Und sie bereiten ihm Sorgen. Denn der therapeutische Leiter der Rehaklinik Freiolsheim weiß, dass mit der steigenden Zahl der jugendlichen Kiffer auch der Anteil wächst, der in einigen Jahren wegen eines massiven Drogenproblems in Suchtkliniken landet. „Die Erfahrung zeigt, dass es bei vielen, die Cannabis rauchen, auf Dauer nicht beim Kiffen bleibt“, sagt Indelkofer.

In Freiolsheim sind die jungen Patienten, die ausschließlich kiffen, in der Minderheit: Wer hier zur stationären Therapie kommt, hat wenigstens drei bis acht weitere Suchtmittel ausprobiert. „Sie haben alle mit 13, 14 Jahren angefangen, Drogen zu nehmen“, sagt auch der Suchttherapeut Georg Mäder. Meist hat es mit Cannabis rauchen begonnen, dann wurde weiter experimentiert – mit Alkohol, dann mit Chemie wie Amphetamine, Speed, Koks und Crystal Meth. Im Laufe der Jahre ist so viel in ihren Körper gepumpt worden, dass sie daran körperlich und seelisch fast zerbrochen sind. „Jetzt müssen sie die Herausforderung annehmen, aus dieser Abhängigkeit herauszukommen.“

Der erste Versuch, eine Therapie durchzuhalten, geht häufig schief

Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) Baden-Württemberg gibt pro Jahr rund 50 Millionen Euro aus, um Süchtige zu therapieren. Die teurere Alternative würde lauten: Erwerbsminderungsrente für Anfang Zwanzigjährige. „Zudem hilft eine schnelle Rückführung in den Job auch gegen Altersarmut“, sagt der DRV-Landeschef, Hubert Seiter. Doch bei vielen Suchtkranken bedarf es mehreren Anläufen. Der erste Versuch, eine Therapie durchzuhalten, geht häufig schief, heißt es bei der Landesgeschäftsstelle der DRV. Für behandelte Alkohol- und Medikamentenabhängige beträgt die Quote der Abstinenten laut Drogenbericht 2013 rund 30 Prozent. Der Rest wird rückfällig.

In jeder Suchtklinik gibt es die Geschichten, wo Drogen in die Klinik geschmuggelt werden und es zu Rückfällen kam. Die Therapie ist hart, sagen die Patienten. Man muss lernen, ohne Drogen den Alltag zu bewältigen, sagt Sabrina. Sie hat Glück, dass sie ein Abitur und eine Ausbildung abgeschlossen hat. Andere, die in Freiolsheim therapiert werden, haben weder das eine noch das andere. Zwar bietet die Klinik die Möglichkeit, den Schulabschluss nachzuholen und den Patienten während der Ausbildung zu begleiten. Doch der Ausblick, wieder in den Alltag entlassen zu werden, macht den Patienten Sorgen, so der Suchttherapeut Mäder. „Sobald sie merken, dass der Nutzen des Nüchternseins von Alltagsproblemen überlagert wird, halten sie die Rückkehr zu den Drogen als die bessere Alternative.“

In Freiolsheim versucht man es daher mit Betreuung – auch über die Therapie hinaus

Seit Jahren suchen Suchtexperten neue Wege, um Rückfallquoten zu vermeiden. Einer der gängigen ist der über Ersatzdrogen – der allerdings kontrovers diskutiert wird, da viele dieser Substitute selbst ein Abhängigkeitspotenzial besitzen. In Freiolsheim versucht man es daher mit Betreuung – auch über die Therapie hinaus: „BISS“ heißt das Programm, die Abkürzung für „Berufliche Integration nach stationärer Suchtbehandlung“, das der Träger der Klinik, der AGJ-Fachverband Freiburg, zusammen mit der Rentenversicherung seit 2013 anbietet. Es soll jungen Suchtkranken nach der Therapie den Einstieg in das Berufsleben erleichtern und Arbeitgebern die Sorge nehmen, sich mit diesen Lehrlingen ein faules Ei in den Betrieb geholt zu haben.

„Taucht ein Problem auf oder droht es auch nur aufzutauchen, dann gibt es für Arbeitgeber und für Arbeitnehmer die Möglichkeit, in der Therapieeinrichtung anzurufen“, sagt Hubert Seiter. Das gibt nicht nur den Ausbildern das Gefühl von Sicherheit. „Die Option, sich in Krisen melden zu können, ist auch für Suchtkranke enorm wichtig“, sagt Mäder. Seit dem Start sind rund 80 ehemalige Patienten erfolgreich in Unternehmen und Betriebe integriert worden, knapp die Hälfte, so berichtet Heide Holfelder-Schulmeister, die stellvertretende therapeutische Leiterin der Klinik, hätten über „BISS“ eine Berufsausbildung absolviert. Jetzt soll nach dem Willen von DRV-Landeschef das Projekt bundesweit Schule machen.

Sabrina hat die Entgiftung hinter sich. In Freiolsheim will sie lernen, ohne Drogen zu leben – schon allein ihres kleinen Sohnes zuliebe. Drei Monate hat sie dazu noch Zeit. Dann wird die Welt da draußen mit all den Höhen und Tiefen sowie den Versuchungen wieder Alltag. Doch Sabrina setzt auf ihren eisernen Willen: „Das schaffe ich schon.“