Ländliche Idylle: Eine Kuh läuft übers saftig grünes Gras unter blauem Himmel. Foto: dpa

Städter träumen vom einfachen Leben auf dem Land, doch ist dort wirklich das Idyll zu finden?

Stuttgart - Das Plumpsklo im Hof, der Lehmfußboden in der Küche, der mit Holz befeuerte Herd. Kühe im Stall, Schweine im Koben, pickende Hühner drinnen und draußen. Eine von Jahr zu Jahr größere Schar rotznäsiger Kinder in den abgetragenen Kleidern der schon im Krieg befreundeten Familie aus der fernen Stadt, die an Sonntagen vor Ostern in den Weiler einbrach und spätnachmittags mit vollen Eierkartons im Kofferraum die Stätte ländlicher Armut im Bewusstsein der Überlegenheit verließ. Wahrscheinlich, ganz sicher sogar, atmete die bäuerliche Familie auf, als das Auto mit dem anstrengenden Besuch um die Ecke bog.

Der Matsch, der Geruch von Stall und Gülle, die unter der Arbeitslast ächzenden Körper der Bauern und die kauende, so gar nicht aufgeweckt klingende Sprechweise ihres Dialekts erschien viele Jahre nach diesen Besuchen in der Erinnerung als das Arkadien der Kindheit auf dem Schirm. Gut für einen aufregenden Ausflugstag, mit etwas Mumm auch für herrliche Sommerferien. Aber doch kein Ort, an dem ein Nachkriegskind aus bescheidenen, aber ungleich bequemeren Verhältnissen aus der Stadt leben wollte.

Heute schon. Oder doch eher nicht? Es gibt eine alte Sehnsucht nach dem einfachen Leben. Sie taucht auf, wenn Lebens- und Arbeitsverhältnisse als bedrohlich empfunden werden. Wenn es eng wird um einen herum und in einem drin und kompliziert, dann sieht das Land verlockend aus. Ruhig liegt es in der Vorstellung da, als könne das von den Zumutungen der Stadt überforderte Arbeitstier Ruhe finden.

Selbstversuch in der deutschen Provinz

Frust in der Stadt erzeugt die Lust auf das Land. Es ist der Wunsch, alles hinter sich zu lassen. In dieser Projektion fehlt auf dem Land alles, was das Leben in der Stadt schwierig macht: feinstaubgesättigte Luft, Lärm, die ansteckende Hetze, die den menschlichen Umgang vergiftet, und das Gefühl, für nichts und niemand Zeit zu haben. Wo die Gegenwart für viele immer schwerer auszuhalten ist, öffnet das Wunschbild von der Zukunft auf dem Land die Aussicht auf Veränderung. Es ist ein Schlupfloch für kleine Fluchten.

Manche Leute ziehen tatsächlich aufs Land. Schauspielern, Schriftstellern, Journalisten fällt es leichter, die Stadt zu verlassen und mit bohemehaftem Elan in einem Dorf Wurzeln zu schlagen. Muss ja nicht für immer sein. Ist das Breitbandkabel in diese Ecke des ländlichen Raums vorgedrungen, stellt das World Wide Web die Verbindung zur Welt her. Meistens schreiben diese mitteilungsbedürftigen Menschen Artikel über ihre Erlebnisse in der neuen Fremde für Tageszeitungen oder ein Buch.

Hilal Sezgin erzählte „von einer, die rauszog“, die sich von der Vegetarierin zur Veganerin herunterentwickelte. Der Journalist Axel Brüggemann zog in die stadtnahe Provinz, weil er das Haus seines Großvaters geerbt hat. Der Journalist Martin Reichert unternahm einen „Selbstversuch in der deutschen Provinz“. Der Fernsehmoderator Dieter Moor und seine Frau, die von Fernsehproduzentin auf ökologischen Landbau umgesattelt hat, betreiben bei Berlin ökologischen Landbau auf 70 Hektar und züchten Wasserbüffel und Galloway-Rinder. Das Hin-und- her-gerissen-Sein zwischen Stadt und Provinz ist zu spüren oder liegt offen da.

Die heile Welt zieht immer noch

Sie erzählen immer über etwas, nicht aus etwas heraus. Weil es nicht zu ihnen gehört, sie darin nicht aufgewachsen sind. Einer vom Land schreibt nicht über das Leben auf dem Land, nicht einmal über die Stadt, in die es ihn verschlug. Die Stadtbewohnern eingeschriebene Haltung, über den Dingen zu stehen, finden selbstbewusste Landbewohner, mit Verlaub, zum Kotzen.

Gegenüber der undurchschaubaren Stadt erscheint das Land übersichtlich geordnet. Schön grün und drüber der blaue Himmel. So heil ist es in Romanen, billigen Fernsehfilmen. Der SWR vor allem, viel weniger das Bayerische Fernsehen, verbreitet ein folkloristisch verlogenes Bild von Baden-Württemberg. Gockelhafte Angestellte des Landessenders mit eingebautem Mikro, von Gutelaunekrämpfen geschüttelt, fahren hinaus aufs Land, und dann spielen alle aufgeräumtes, sauberes, nettes kleines Dorf. In welcher Welt leben sie? Der Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ macht Dörfer zu museumsreifen Bilderbuchidyllen. Fotobände von Verlagen üben sich im Wegsehen. Das Ding mit der heilen Welt zieht immer noch. Sie haben putzige „Fahr mal hin“, und du wirst sehen, wie es ist auf dem Land.

Welches Land? Das Land hinter der Stadtgrenze oder das großstadtfern gelegene Land? Das Hinterland der alten DDR, Nordhessen, Mecklenburg, die Schwäbische Alb, oder das Hohenloher Land? 93 Prozent der Gemeinden und 80 Prozent der Fläche des Landes werden als ländlich eingestuft.

Sonntags im Bus, im Zug, im Auto aufs Land. Landschaften aus Hügeln und Wäldern, Wiesen und Weiden. Dächer mit Solarzellen. In Plastikfolie verpackte Felder. Verlassene Bahnhöfe. Einheitsfußgängerzonen. Neubausiedlungen und Gewerbegebiete an den Dorfrändern. Kruzifixe an Landstraßen. Großflächige Monokulturen. Trostlosigkeit macht sich breit. Dörfer geben sich kleinstädtisch. Kleinstädte sind schon Teil einer Metropolregion. Dörfliches Leben läuft dort unter städtischen Vorzeichen ab.

Das Dorf hat eigene Regeln

Das Einfamilienhaus steht für die Unabhängigkeit seines Besitzers vom Mietspiegel der Innenstadt. Großstädter träumen vom Bergdorf in den Alpen, vom Fischerdorf an der Nordsee, vom Bauerndorf im Allgäu, von einer Neureichenvilla im Naherholungsgebiet. Die aus den Städten, mit den guten Jobs, stellen sich ein Haus hin, das ihr ökologisches Bewusstsein repräsentiert.

Das Dorf hat eigene Regeln. Wer von draußen kommt, ist suspekt. Der Eindringling wird als störend empfunden. Was immer auch im Innersten des dörflichen Lebens geschieht – und das ist viel weniger harmlos, als es sich der harmlose Stadtmensch vorstellen mag –, nach außen hin zeigt sich das Dorf als geschlossene Gesellschaft. Der Klatsch ist schon da, wenn man kommt. Weil die Leute miteinander reden, wenn sie nicht verfeindet sind. Jeder wird Teil des Geredes, ob er will oder nicht, er verfängt sich in einem Netz, an dem er mitwebt, ohne es zu wissen. Man ist gefangen. Ein Mensch mit zwei linken Händen hat es schwer. Den Kopfarbeiter halten sie für einen Nichtsnutz, was ja vielleicht stimmt, für einen Spinner. Wer nicht ist wie sie, wird verdächtigt und überwacht. Es ist wie in den Dorfromanen. Ein Fremder, das Fremde schlechthin, dringt in ihr Sozialmodell aus Hierarchie, Gewohnheiten, Besitz/Macht ein. Man muss sich gut mit ihnen stellen, sich auf sie einlassen. So leben und denken wie sie. Umgekehrt funktioniert es nicht.

Aber auch das die Projektion eines Städters, der am Wochenende aufs Land fährt, wo er im Naturpark, an Wein- oder Burgenstraßen, auf Radwanderwegen sich in der Erlebnisgastronomie zwischen Filetspitzen, Blutwurst mediterran und Riesengarnelen aus der Region entscheidet, auf der Riesenrutsche im Freizeitpark sein Mütchen kühlt, in einer Wellnessoase am Rand des Vergessens die feinstaubgebeutelten Lungenflügel lüftet, Biokäse für die Woche im Hofladen kauft und von einem Fachwerkhaus im Faller-Stil träumt.

Die Metropolisierung der Provinz

Sich vorzustellen, an einem dieser Orte zu wohnen, die im Sonnenlicht hübsch dastehen, im deutschen Wetter öd und leer sind, fällt schwer. Landschaften werden auch nicht schöner mit der Zeit. Dem Landbewohner ist die Landschaft in Fleisch und Blut übergegangen, der Städter staunt oder rennt da durch, eine Zeit lang wenigstens, dann wird die Wiese, der Hügel, der Waldessaum zur Gewohnheit und verschwindet aus seiner Wahrnehmung. Eine schöne Landschaft kann Lebensqualität nicht ersetzen. Und dafür bleibt in deutschen Landen wenig Zeit.

Außerdem wächst die Armut auf dem Land, aber nicht nur da. Axel Brüggemann schrieb vor einem Jahr: „Die Fernuniversität Hagen hat herausgefunden, dass 25,3 Prozent der Haushalte auf dem Land mit einem Einkommen von unter 1300 Euro im Monat leben. In Großstädten liegt der Anteil der Geringverdiener bei 17,7 Prozent.“ Schulen, Verkehr, Ärzte, Gastronomie sind vernachlässigt bis verkommen, wenn überhaupt vorhanden. Die Menschen pendeln, oder sie ziehen gleich in die Stadt.

Die Metropolisierung der Provinz wird vom Flugzeug aus sichtbar. Ortschaften schieben sich ineinander. Es gibt kaum noch unverbautes Land. Das Land verstädtert. „Achtzig Prozent der Bevölkerung der industrialisierten Länder leben heute in Städten, die anderen Länder folgen dieser Tendenz. In fünfzig Jahren wird es praktisch keine Landbevölkerung im eigentlichen Sinne des Wortes mehr geben“, schreibt der Ethnologe Marcel Hénaff in seinem Aufsatz „Globale Urbanität“ in „Lettre international 95“. „Der Anteil der urbanen Bevölkerung beträgt, alle Länder zusammengenommen, derzeit fünfzig Prozent, also zirka 3 von 7 Milliarden. 1800 lag er noch bei 3 Prozent, 1900 bei zehn Prozent, bis 1950 stieg er dann auf 30 Prozent. Heute leben in den Städten mehr Menschen, als 1950 die ganze Erde bevölkerten (damals 2,5 Milliarden).“ Landflucht ist kein deutsches Phänomen.

Die Verbreitung des Wohlstands kann man an der Entwicklung der Hygiene ablesen. Das Plumpsklo ist der Wasserspülung in der Ferien-auf-dem-Bauernhof-Wohnung gewichen. Es gibt kuhwarme Milch zum Frühstück und Nutztiere im Streichelzoo. Da macht den sentimentalen Städter froh.