Greift den Stundenweltrekord an: Radprofi Jens Voigt Foto: dpa

Nur ein PR-Gag oder doch der letzte Paukenschlag des Pedaleurs? Jens Voigt greift zum Ende seiner Laufbahn nach dem Stundenweltrekord – und verspricht: „Das ist keine Zirkusnummer.“

Nur ein PR-Gag oder doch der letzte Paukenschlag des Pedaleurs? Jens Voigt greift zum Ende seiner Laufbahn nach dem Stundenweltrekord – und verspricht: „Das ist keine Zirkusnummer.“

Grenchen/Schweiz - Jens Voigt war schon immer ein guter Verkäufer in eigener Sache. Eloquent, schlagfertig, redselig – er kurbelte seine Karriere 18 Jahre lang nicht nur auf dem Rad an. An diesem Mittwoch feiert der Berliner seinen 43. Geburtstag, und dazu passend sagt er voller Pathos: „Ich mache meinen Fans ein letztes Geschenk.“

Schon länger spotten einige Kollegen, kaum ein Radprofi habe es geschafft, das Ende seiner Laufbahn derart zu zelebrieren wie der sechsfache Vater Voigt. „Er ist ja eigentlich die gesamte Saison auf Abschieds-Tournee“, meinte zuletzt zum Beispiel Danilo Hondo. Und als er dies sagte, wusste er noch gar nicht, dass der Berliner zum Abschluss einen echten Knaller aus dem Hut zaubern würde – den Angriff auf den Stundenweltrekord. Auf einen Mythos des Radsports.

Jens Voigt hat sich diese Bestmarke ganz gezielt ausgesucht. Weil er wusste, dass es eine wunderbare Schlagzeile gibt, wenn er von seiner „letzten Stunde“ als Radprofi spricht. Diese schlägt an diesem Donnerstag (19 Uhr/Eurosport) im Velodrome Suisse in Grenchen. Und weil er die große Chance hat, sich mit seiner letzten Pedalumdrehung im Geschichtsbuch seiner Sportart zu verewigen – obwohl er weder ein Bahnspezialist ist noch ein herausragender Mann im Rennen gegen die Uhr und obwohl er seine besten Zeiten eigentlich schon längst hinter sich hat. Aber Voigt ist eben erfahren. Und clever.

Die Historie des Stundenweltrekordes beginnt 1893. Damals fuhr der Journalist Henri Desgrange, später Gründer der Tour de France, in Paris 35,325 km. Seither wurde die Bestmarke 34-mal verbessert, in der Liste der Rekordhalter finden sich so große Namen wie Fausto Coppi (45,798 km/1945 in Mailand), Jacques Anquetil (46,159 km/ 1956 in Mailand) oder Eddy Merckx (49,431 km/1972 in Mexiko-Stadt).

Eine Zeit lang war die Jagd auf den Rekord derart prestigeträchtig, dass ein kostspieliges Rennen der Tüftler begann. Auf futuristischen Rädern und in Sitzpositionen, die nur noch entfernt mit dem üblichen Radsport zu tun hatten, verschoben Graeme Obree (52,713 km/1993 in Bordeaux) oder Chris Boardman (56,375 km/1996 in Manchester) die Grenze immer weiter. Bis der Radsport-Weltverband im Jahr 2000 den Schlagbaum senkte. Die UCI annullierte alle Bestmarken, die Profis auf Rädern erzielt hatten, die technisch nicht mit dem Velo von Eddy Merckx vergleichbar waren. Chris Boardman war anschließend der letzte Star, der sich versuchte. Auf einem normalen Rad kam der Brite im November 2000 in Manchester auf 49,441 km und damit zehn Meter weiter als Eddy Merckx 28 Jahre zuvor.

Danach hatten die großen Namen des Radsports kein Interesse mehr, die Bahn war frei für eher unbekannte Fahrer: Den aktuellen Weltrekord hält der Tscheche Ondrej Sosenka, der 2005 in Moskau 49,700 km zurücklegte. Es war seine letzte große Leistung, drei Jahre später wurde er als Doper überführt und gesperrt. Und nun kommt Jens Voigt ins Spiel, in dem es vor allem darauf ankommt, für eine spektakuläre Stunde den richtigen Zeitpunkt zu erwischen.

Denn um den alten Mythos wiederzubeleben, hat die UCI ihre Regeln erneut geändert. Seit Mitte Mai dürfen Räder verwendet werden, die auch für Ausdauerwettbewerbe auf der Bahn zugelassen sind – das Bike von Voigt ist eine 8,4 kg schwere aerodynamisch geformte Spezialanfertigung mit Scheibenrädern vorne wie hinten, ohne Bremsen und Gangschaltung. Wer diese Maschine mit dem Rad von Sosenka vergleiche, der vergleiche „Äpfel mit Birnen“, meint Ex-Profi Rolf Aldag, heute Teammanager des Zeitfahr-Weltmeisters Tony Martin. „Es kann schon passieren, dass Voigt den Rekord bricht“, meint Aldag, „sehr schwer würde es allerdings für ihn werden, wenn er mit dem Material von Sosenka fahren müsste.“

Das muss Voigt aber nicht. Deshalb könnte der einstige Ausreißerkönig nach 199 Runden auf dem 250-Meter-Holzoval in Grenchen, wo das Herz der Schweizer Uhrenindustrie schlägt, noch mal einen großen Solo-Sieg landen. Allerdings wäre der Berliner dann mit ziemlicher Sicherheit nur ein Rekordmann auf Zeit. Denn durch die neuen Regeln ist die Bestmarke plötzlich auch wieder für die Stärksten im Kampf gegen die Uhr interessant geworden. Weltmeister Martin (Cottbus), der britische Olympiasieger Bradley Wiggins, Fabian Cancellara (Schweiz) – alle können sich einen Angriff auf den Stundenweltrekord gut vorstellen. „Ich erwarte eine brauchbare Vorgabe von Voigt“, sagt zum Beispiel Martin.

Sollte er sein letztes Ziel erreichen, würde allerdings vorerst Jens Voigt in der Rekordliste an Nummer eins stehen. Es wäre, passend zum Abschied nach 18 Jahren, vor allem ein Geschenk an sich selbst.