Rund um die Wagenhallen am Stuttgarter Nordbahnhof entsteht in den nächsten Jahrzehnten ein ganzes Stadtquartier neu. 22 Studenten eines internationalen Masterstudiengangs möchten ihren Teil dazu beitragen. Für vieles... Foto: Leif Piechowski

Studenten der Universitäten Stuttgart und Kairo entwerfen Visionen für Quartier am Nordbahnhof.

Stuttgart - Aus einem Labor-Raum im achten Stock eines Hochhauses auf dem Innenstadt-Campus dringt Stimmengewirr. Ob auf Deutsch, Englisch oder Arabisch: Die 22 Studenten des 2010 ins Leben gerufenen gemeinsamen Masterstudiengangs „Nachhaltigkeit in Architektur und Städtebau“ der Universitäten Stuttgart und Kairo suchen und finden auch an diesem Tag viele Wege, um sich über ihre Gedanken auszutauschen.

Der einwöchige Workshop soll zusammenführen, was die Studenten aus Tunesien, Syrien, Ägypten, Jordanien und Deutschland seit letztem Herbst erarbeitet haben. Bis zum Sommer bleiben sie noch in Stuttgart, danach zieht die Karawane für ein Jahr weiter in die ägyptische Partnerstadt Kairo.

Während der zwei Semester in der Landeshauptstadt steht die Stadtplanung für das Gebiet rund um die Wagenhallen und den Nordbahnhof im Mittelpunkt. Die Fragestellung, die die Studenten beschäftigt: Wie lässt sich unter Berücksichtigung sozialer und ökologischer Gesichtspunkte ein Wohnquartier mit hoher Lebensqualität schaffen, das zugleich das vorhandene künstlerische Potenzial zu nutzen weiß?

Vorschläge werden im Sommer präsentiert

Ob „Unique Neighbourhood“ oder „Vision for 2025“: An den Wänden des Labors hängen zahlreiche handgeschriebene Plakate mit schmissigen Slogans. Auch wenn das bisher Erarbeitete noch eher theoretischer Natur ist und seitens der Stadt kein offizieller Auftrag besteht: Die Verantwortlichen stehen in engem Kontakt mit den Stadtplanern und der Rosensteinstiftung. Die konkreten Vorschläge für Gebäude und Grünflächen, die im Sommer präsentiert werden, sollen vor allem ein Angebot sein.

Gerade die Unvoreingenommenheit der ausländischen Studenten sei eine Chance, erklärt Kurskoordinator Bernd Eisenberg. „Die haben natürlich einen ganz anderen Zugang zu dem Thema.“ Gleichzeitig müssten sie sich durch die vielen typisch deutschen Angelegenheiten kämpfen, die gerade rund um das Bahnhofsprojekt Hochkonjunktur haben. Der Juchtenkäfer sei ja schließlich auch bei den Wagenhallen zu finden, sagt Eisenberg und lacht. „Für uns ist es eine Experimentierfläche. Wir wollen Bestehendes weiter nutzen, aber auch vieles verändern“, erklärt er und betont, wie wichtig für eine erfolgreiche Stadtentwicklung die Akzeptanz bei den Bürgern vor Ort sei.

Verständnis für die Proteste rund um S 21

Unter den Studierenden sind auch der 23-jährige Ägypter Mohamed Amer und die Jordanierin Muna Shaalan, 25. Amer sieht mit seinem europäischen Kleidungsstil und Designerbrille in etwa so aus, wie man sich die ägyptische Generation Facebook vorstellt, die im letzten Jahr maßgeblich am Arabischen Frühling mitwirkte. An jener Protestbewegung also, die manch einen Despoten des Nahen Ostens zum Rücktritt zwang.

Von dem Masterstudiengang hat Amer im Internet erfahren. Die beiden Studenten haben Verständnis für die Proteste rund um S 21. „Ich habe schon zu Hause in den Medien von dem Bahnhofsprojekt gehört“, sagt Shaalan, eine zierliche junge Dame mit Kopftuch und Make-up. „Ich verstehe die Menschen, die auf die Straße gegangen sind. Aus meiner Sicht ist allerdings nicht das Projekt das Problem, sondern die Umsetzung, die Kommunikation mit den Menschen.“ Der Ägypter sieht das ähnlich. Man müsse bei der Gestaltung des neuen Gebiets die Bürger einbinden und ökologische Aspekte berücksichtigen. Über die Wagenhallen habe er bei seinem ersten Besuch gestaunt. „Sie liegen so versteckt – und dann ist darin so viel kreatives Leben!“

Charakter des Gebiets unbedingt erhalten

Aus eben diesem Grund gebe es für das Gebiet keine einfachen Lösungen, sagt Professor Philipp Misselwitz, Leiter des Studiengangs. Die „Stunde null“ eines Quartiers sei für Stadtplaner immer sehr reizvoll – doch den Charakter des Gebiets möchte er unbedingt erhalten. „Die Künstler werden oft als Lückenbüßer empfunden und nicht ernstgenommen“, bemerkt er nachdenklich. „Vielleicht ist Stuttgart wirtschaftlich sogar zu erfolgreich. Alternative Lebensstile und Nischen verschwinden immer mehr – wo sie doch für die Lebensqualität einer Stadt so wichtig sind.“

Dass die beiden Partnerstädte Stuttgart und Kairo auch architektonisch zuweilen mehr verbindet, als man auf den ersten Blick ahnen mag, demonstrieren Postkarten, die von den Projektorganisatoren gestaltet wurden. Ein Augenzwinkern ist sicherlich mit dabei, wenn etwa der eher nüchtern-europäische Stuttgarter Hauptbahnhof seinem Kairoer Pendant mit deutlich orientalisch geprägter Architektur gegenübergestellt wird. Doch auch wenn ein Vergleich der beiden Metropolen in mancherlei Hinsicht ein wenig kühn erscheinen mag: Ein Hauch von Arabischem Frühling dürfte auch der hiesigen Stadtentwicklung kaum schaden.

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