In dieser Schultoilette lauerte der Angeklagte einer 15-Jährigen auf Foto: 7aktuell.de/Jueptner

Erpressung, Sexspiele oder gar Mord? Das Motiv für die gescheiterte Entführung einer 15-Jährigen aus einer Schule in Nürtingen bleibt auch am ersten Prozesstag im Dunkeln.

Stuttgart/Nürtingen - Wer es war, scheint geklärt. Ein 27 Jahre alter Mann aus Neuffen hat am ersten Prozesstag vor dem Landgericht Stuttgart gestanden, im Mai vorigen Jahres versucht zu haben, eine Schülerin zu entführen. „Das große Rätsel bleibt das Motiv“, sagt sein Verteidiger Stefan Holoch. „Ich glaube, er weiß es selbst nicht“, so Holoch weiter.

Der in Heidelberg geborene, mehrfach vorbestrafte Angeklagte hat alle Vorwürfe vor der 4. Strafkammer über seinen Anwalt eingeräumt. Neben dem Hauptvorwurf des Menschenraubs werden ihm noch Beleidigungen, Faustschläge gegen Passanten, ein versuchter Diebstahl und Widerstand gegen Polizisten vorgeworfen – meist begangen im Alkoholrausch. „Und dann kam der Paukenschlag“, sagt der Verteidiger.

Es ist der 5. Mai 2014. Gegen 12.15 Uhr geht eine 15-jährige Schülerin des Max-Planck-Gymnasiums in Nürtingen (Kreis Esslingen) aus der Englischstunde auf die Toilette. „Als ich reinkam habe ich gesehen, wie eine Kabinentür zuging“, so das Mädchen vor Gericht. Als sie selbst aus ihrer Kabine kommt, springt ein schwarz gekleideter Mann auf sie zu, drückt sie an eine Kabinenwand, wobei sie sich den Kopf wuchtig anschlägt, und er beginnt ihren Kopf mit schwarzem Klebeband zu umwickeln. „Ich habe keine Luft mehr bekommen“, sagt die tapfere Zeugin, die immer noch traumatisiert ist, vor Gericht aber Stehvermögen zeigt.

Gefesselt und in Kabine gezerrt

Der Unbekannte fesselt das Mädchen an den Händen und zerrt es in eine Kabine, in der eine schwarze Sporttasche steht. Dort fixiert er die Beine der Schülerin mit Klebeband und versucht, sie in die Sporttasche zu stecken. Zuvor hatte es die Jugendliche geschafft, das Band von der Nase zu schieben – sie kann wieder gut atmen. Dann trägt der Mann sein Opfer halb aus der Tasche heraushängend aus der Toilette in Richtung Ausgang, dreht aber wieder um. „Er hat wohl gemerkt, dass das eine dumme Idee war“, sagt die Zeugin. Er setzt die gefesselte Schülerin in einer Toilettenkabine ab und verschwindet. Das Mädchen wird von einer Mitschülerin gefunden. „Ich habe keine Ahnung, was er mit mir wollte“, sagt die heute 16-Jährige. Klar ist nur, dass sie ein Zufallsopfer war. Noch am selben Abend hatte sich der Mann in Stuttgart der Polizei gestellt.

Der unscheinbare Angeklagte, der nach seinem Abitur mehrere Studiengänge in den Sand gesetzt hat, gibt zwar Auskunft zu seinem Lebenslauf – zu den Vorwürfen lässt er aber seinen Anwalt sprechen. Alles sei soweit zutreffend, sein Mandant entschuldige sich bei dem Opfer, den Eltern und den anderen Schülerinnen und Schülern, wolle aber nichts weiter sagen und werde auch keine Fragen beantworten, so Verteidiger Holoch.

„Quälen, missbrauchen, töten?“

„Jeder fragt sich, was Sie mit dem Mädchen machen wollten“, sagt Vorsitzende Richterin Cornelie Eßlinger-Graf und sie listet Möglichkeiten auf. Geld erpressen von den Eltern? Unwahrscheinlich, da der 27-Jährige nicht wissen konnte, wen er auf der Toilette in seine Gewalt bringt. „Quälen, sexuell missbrauchen, töten?“ fragt die Richterin. Bei der Durchsuchung der Wohnung des Mannes hatte man eine große Menge an Pornografie sichergestellt – auch Fesselsex-Darstellungen. „Sie wollten mit dem Opfer sicher nicht Schach spielen oder tiefgründige Gespräche führen“, sagt so die Richterin. Sie lege ihm dringend ans Herz, sich zu öffnen. „Wenn man nicht weiß, was mit Ihnen los ist, kann man Ihnen auch nicht helfen“, so die erfahrene Kammer-Chefin.

Es bleibt dabei: Der Angeklagte schweigt, sein Motiv für den Überfall auf die Schülerin bleibt rätselhaft – vorerst. Bei der Polizei hatte er lediglich ausgesagt, er habe sich schon Wochen zuvor mit dem Plan für den Menschenraub beschäftigt. Ob die Worte der Richterin bei ihm einen Sinneswandel bewirken, bleibt abzuwarten. Es sind noch weitere sieben Verhandlungstage mit mehr als 40 Zeugen terminiert.

Auf ein besonders erfolgreiches Leben blickt der merkwürdige Angeklagte nicht zurück.

Suizidversuch in Italien

Als Sohn eines Bauunternehmers in Heidelberg geboren, zieht er als Kind nach Stuttgart. Die Eltern trennen sich, er macht in Tübingen das Abitur. Pilot kommt als Beruf infrage, die Bundeswehr will ihn nicht. Er beginnt mehrere Studiengänge und Ausbildungen, bringt aber nichts zu Ende. Schon als Jugendlicher spricht er übermäßig dem Alkohol zu. Im Alter von 21 Jahren schnappt er sich das Auto seines Vaters und fährt nach Italien – ohne Führerschein. Dort will er sich umbringen, fährt gegen einen Brückenpfeiler und überlebt leicht verletzt. „Ich hatte keine Perspektive für mich gesehen“, sagt der Mann. Zwischenzeitlich ist er obdachlos. Seine einzige längere Beziehung : 2011 für acht Monate mit einer thailändischen Prostituierten. Der Prozess wird am 18. Januar fortgesetzt.