Hier protestieren Türken gegen die Festnahme von Mitarbeitern der Zeitung „Cumhuriyet“, andere tragen ihren Protest auf die Theaterbühne. Foto: AFP

Schwere Zeiten sind oft gute Zeiten für die Kunst: Schauspieler, Regisseure und Publikum verarbeiten ihren Frust und ihre Angst in Erdogans Türkei gemeinsam.

Istanbul - Die Kulturnachrichten aus der Türkei sind meist schlecht in diesen Tagen: Schriftsteller, Professoren und sogar Dirigenten werden verhaftet, Wikipedia ist gesperrt, Zeitungen und Fernsehen werden zensiert, Journalisten stehen vor Gericht. Auf den ersten Blick mag es deshalb überraschend sein, dass das Theater in der Türkei derzeit eine Blütezeit erlebt. So quicklebendig und aktiv ist die türkische Theaterszene, dass sie nicht mehr in das bisherige Format des Istanbuler Theaterfestivals hineinpasst.

Statt alle zwei Jahre wie bisher werde das Festival ab sofort alljährlich stattfinden, kündigte die private Istanbuler Stiftung für Kunst und Kultur, die wichtigste Kulturorganisation der Türkei und Veranstalterin des Festivals, jetzt an.   „Die Energie in der Theaterszene ist so hoch, wir haben so viele neue Produktionen in Istanbul“, begründet die Festival-Direktorin Leman Yilmaz diesen Schritt. Innerhalb nur eines Jahres sind nach ihrer Zählung alleine in Istanbul 165 neue Produktionen auf die Bühnen gekommen. „Praktisch jeden Tag gibt es Premieren, kommen neue Theaterstücke auf die Bühne“, sagt Yilmaz.

Die Zuschauerzahlen in den Theatern steigen

Kaum ein Drittel dieser Stücke kommt von den staatlichen Theatern, zu 70 Prozent werden sie von freien Theatern auf die Bühne gebracht. Trotz politischer und wirtschaftlicher Krise wird in der Türkei nicht weniger Theater gemacht, sondern immer mehr. Der Grund dafür ist klar, sagt Leman Yilmaz: „In Zeiten von Repressionen, Kriegen und Konflikten verspüren wir vermehrt das Bedürfnis, uns mitzuteilen und unsere Gefühle durch die Kunst zu teilen, ob als Künstler oder Publikum.“ Insofern seien schwere Zeiten immer gute Zeiten für die Kunst: „Und dies sind gute Zeiten für das Theater in der Türkei.“

Die Zuschauerzahlen stützen diese Beobachtung: Knapp sechs Millionen Zuschauer verzeichneten die türkischen Bühnen im vergangenen Jahr – ein Plus von 25 Prozent innerhalb von sechs Jahren. Und das, obwohl bei den politischen Säuberungen der jüngsten Zeit viele Künstler der staatlichen Theater gefeuert wurden. Der Schauspieler Levent Üzümcü war der erste – er wurde wegen öffentlicher Kritik an der Regierung schon 2015 vom Stadttheater Istanbul entlassen und ist noch immer verbittert. „Ich habe am Stadttheater weniger verdient als ein Busfahrer, aber ich bin Sozialist, ich wollte für fünf Lira für das Volk auftreten“, sagt Üzümcü. „In unseren privaten Theatern kostet die Karte fünfzig Lira.“

Der Trend zum freien Theater wird stärker

Trotz dieser Eintrittspreise spielt Üzümcü sein jüngstes Stück seit Monaten vor vollen Theatern. Ähnliche Erfahrungen machen andere Künstler, die aus staatlichen Häusern entlassen wurden. In Diyarbakir etwa wurden im Januar alle Schauspieler des Stadttheaters auf die Straße gesetzt. Die Künstler gründeten daraufhin ein freies Theater und spielen nun, was sie wollen. Damit verstärkt sich der Trend zum freien Theater in der Türkei, der aus der Not geboren ist. Schon seit Jahren konnten die staatlichen Theater nicht mehr alle Schauspieler aufnehmen, die von den vielen neuen Hochschulen im Land ausgebildet werden – alleine in Istanbul waren es zuletzt 150 Absolventen im Jahr.

„Die Absolventen haben sich kleine Kellerbühnen gemietet oder alternative Theater gegründet und begannen, ganz andere Geschichten zu erzählen“, berichtet der freie Regisseur Emrah Eren. Das habe auch dem Repertoire genützt: „Früher wurden immer nur die alten Stücke gespielt, aber heute haben wir im alternativen Theater eigene Bühnenautoren, neue Schriftsteller und Regisseure – einen frischen Wind.“   Insofern seien dies tatsächlich gute Zeiten für das türkische Theater, sagt Eren, der selbst diesen Weg gegangen ist. Heute inszeniert er auf einer freien Bühne in Istanbul den „Iwan Iwanowitsch“ von Nazim Hikmet – ein kritisches Theaterstück über Personenkult.