Den Anwohnern ist das Geschäft mit Sex ein Dorn im Auge Foto: Max Kovalenko/PPF

Rund 500 Prostituierte bieten nach offizieller Schätzung täglich in Stuttgart ihre Dienste an. Viele davon sind Osteuropäerinnen, die unfreiwillig rund ums Leonhardsviertel anschaffen. Per Unterschriftenaktion protestieren Anwohner gegen das Geschäft mit dem Sex an der Straße.

Rund 500 Prostituierte bieten nach offizieller Schätzung täglich in Stuttgart ihre Dienste an. Viele davon sind Osteuropäerinnen, die unfreiwillig rund ums Leonhardsviertel anschaffen. Per Unterschriftenaktion protestieren Anwohner gegen das Geschäft mit dem Sex an der Straße.

Stuttgart - Die Stuttgarter Innenstadt samt Leonhardsviertel ist Sperrbezirk. Die Anbahnung von Sexgeschäften ist dort nur in den Bordellen erlaubt, nicht auf der Straße. Freier und Prostituierte bezahlen je 180 Euro, wenn die Polizei sie erwischt. Beim zweiten Mal verdoppelt sich die Summe. Dann folgt die Strafanzeige. Auch Martha (30) stand schon vor Gericht, hat einen Strafbefehl über 1800 Euro kassiert. „Der ließ sich in Arbeit umwandeln“, sagt Sabine Constabel.

Sie ist Leiterin des Cafés La Strada, der städtischen Anlaufstelle für Huren im Leonhardsviertel. Trotz Bußgeldern und Strafen stehen Martha und ihre Kolleginnen am Straßenrand und bieten sich Männern an: mit auffordernden Gesten und verbal: „Möchtest du mal ficken. Ich mach das gut.“ – „Was kostest Du?“ ist noch eine der höflicheren Fragen beim Feilschen um den Preis.

Gegen diese Anmache richtet sich jetzt der Protest der Bürger im Bohnenviertel. „Die Prostitution schwappt mehr und mehr zu uns rüber“, sagt Sebastian Erdle. Der 66-Jährige klagt darüber, dass Passantinnen, auch Schülerinnen, von Freiern zum Sex aufgefordert und Passanten von Prostituierten belästigt werden Der Stadt wirft er Untätigkeit vor. Unter dem Motto „Stoppt die Prostitution im Bohnenviertel“ wollen er und seine Mitstreiter die Verantwortlichen mit einer Unterschriftenaktion zum Handeln aufordern. Rund 300 Geschäfts- und Privatleute haben bereits unterschrieben. Nächste Woche soll die Liste im Rathaus vorgelegt werden.

Aber nicht nur für die Anwohner, auch für die Prostituierten hat sich die Situation durch die Freizügigkeit mehr und mehr verschärft. Martha stammt aus Ungarn. Die 30-jährige mit der Figur eines Mädchens schafft seit zwei Jahren im Leonhardviertel an. Nur fünf Kunden hatte sie heute. Mindestens sieben müsse sie haben. Doch jetzt ist sie fix und fertig. Ein Freier bedrohte sie, „weil ich nicht ohne Gummi ficken wollte.“

Mit Tränengasspray hat sie ihn abgewehrt. Seit Martha in Stuttgart ist, sind die Preise von 50 auf 30 Euro pro Freier gefallen. Und: Die Wünsche der Freier werden immer „verrückter“, stellt Martha fest. Mit „verrückt“ meint sie: pervers. Was genau verlangt wird, will sie aus Scham nicht sagen. „Früher wurden Dinge wie Fäkalienspiele auch gefordert. Aber dafür musste extra bezahlt werden. Heute muss das im Preis drin sein“, bestätigt Sabine Constabel. Dagegen wehren könnten sich die Frauen kaum, ohne Sprachkenntnisse und professionelle Erfahrung

Oralverkehr sowie der Verzicht aufs Kondom sind mittlerweile die Regel. Mit den Folgen ist das städtische Gesundheitsamt konfrontiert. „Die Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten wie Tripper, Syphilis und minimal auch mit HIV ist bei den Prostituierten durch ungeschützten Verkehr gestiegen“, sagt Dr. Claus Unger, Leiter der Abteilung für Infektionsschutz. Exakte Zahlen ließen sich allerdings nicht erheben, da die Klientinnen nicht lange an einem Ort bleiben.

Ein weiteres Problem: Kaum eine Prostituierte ist krankenversichert. Vom Gesundheitsamt bekommen sie zwar Medikamente, doch damit lassen es die meisten Prostituierten gut sein. Damit sich die Frauen freiwillig untersuchen lassen, kommen die Amtsärzte ins Café La Strada.

Deutsche Prostituierte sieht man auf dem illegalen Straßenstrich so gut wie nicht mehr. Die meisten stammen aus Osteuropa. Auf Platz Nummer eins rangiert Rumänien, gefolgt von Ungarn. Über 80 Prozent sind Zwangsprostituierte: „Eine Kombination aus Armut und Druck durch Dritte wie Cousins oder Brüder zwingen sie in die Prostitution“, stellt Constabel fest.

Von ihren Einnahmen bleibt den Frauen oft weniger als nichts: Die Zimmer in den Bordellen, in denen sie wohnen und in die sie auch mit ihren Freiern gehen, kosten zwischen 80 und 140 Euro. Außerdem finanzieren sie die Unterkunft ihrer Zuhälter sowie deren Lebensunterhalt. Die meisten Frauen haben Schulden beim Bordell. Elena (38) sagt, unter 14 Freiern gehe es nicht – zumal sie jeden Monat 200 Euro an ihre vier Kinder in Bulgarien schickt. Die leben bei den Großeltern und sollen es einmal besser haben.

Auch Martha schickt Geld nach Hause für ihren Sohn. Er will Polizist werden. Martha kam durch einen so genannten Loverboy nach Stuttgart- einen Landsmann, in den sie sich verliebt hatte und der sie in Stuttgart auf den Strich schickte. Martha hat ein Zimmer für 40 Euro pro Tag und ihren Zuhälter zum Teufel geschickt. Wie? „Ich hab ihm mit der Polizei gedroht“, sagt Martha.

Die Drohung hat laut Constabel deshalb Wirkung gezeigt, weil die Polizei mit Kontrollen im Leonhardviertel präsent ist. Rund um die Uhr sind gut 12 Beamtinnen und Beamte im Rotlichtviertel unterwegs. Der Handlungsspielraum ist begrenzt: Seit in Kraft treten des Prostitutionsgesetzes 2002 sind Zuhälter nur noch greifbar, wenn eine Prostituierte Anzeige erstattet. Doch davor schrecken nach Erfahrung der Polizei die meisten Prostituierten zurück. Die werden laut Constabel ausgetauscht, kehren traumatisiert in die Heimat zurück – ohne Perspektive.

Die Unterschriftenaktion richte sich nicht gegen die Frauen. Sie seien Opfer, betont Sebastian Erdle und fordert: „Die Stadt muss die Situation in Griff bekommen. Kontrolle allein reicht nicht.“